Seit einigen Stunden schneite es unablässig, und im Gegenlicht der Straßenlaterne wirkten die kreisenden Schneeflocken wie angreifende Insekten. Iris nahm ihren Blick zurück, wischte sich über das Gesicht und sah dem davonfahrenden Nachtbus nach. Sie griff nach ihrer schweren Reisetasche und stapfte im Storchengang durch den kniehohen Schnee. Wie oft war sie diesen Weg mit Max gegangen, als sie noch ineinander verliebt waren, als sie beide als Achtzehnjährige Pläne für eine gemeinsame Zukunft gemacht und sich ewige Treue geschworen hatten. Seitdem war ein Jahr vergangen, dass sie ihn doch verlassen hatte.
Es brannte noch Licht im oberen Stockwerk des roten Backsteinhauses. Offensichtlich war Max zuhause und noch nicht zu Bett gegangen. Iris atmete auf und hoffte, dass sie bei ihm bleiben konnte, wenigstens in dieser Nacht. Schritt für Schritt tastete sie sich zum Haus vor, und nicht nur der schlecht ausgeleuchtete Weg machte ihr zu schaffen, auch ihr Gang war in den letzten Wochen schwerfällig und unsicherer geworden. Sie klingelte, aber niemand öffnete die Tür. Wie sollte Max sie auch hören können? Er liebte laute Musik. Der feine Kies, von dem sie damals genommen hatte, um Steinchen an die Scheiben zu werfen, war nun unter der Schneedecke verborgen. Wieder drückte sie den Klingelknopf, lang, kurz, lang. Die Musik verstummte, und kurz darauf öffnete Max die Tür. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seine lange Haare und lehnte ungläubig den Kopf zurück.
„Iris! Du? Was tust du denn hier? Mitten in der Nacht. – Wie kommst du hierher?“
„Mit dem Nachtbus“, antwortete Iris knapp, „darf ich trotzdem hereinkommen?“
Während sie in den Flur ging, sah sie seinen prüfenden Blick, sie wandte sich aber ab und ließ ihre Tasche an der Garderobe fallen.
„Gib mir deinen Mantel, ich hänge ihn auf. Er ist ja ganz nass.“ Max suchte ihren Blick. „Es ist mehr als ein Jahr her, dass du gegangen bist, aber noch immer trägst du solch weite Zeltkleidung.“ Er hielt Iris einen Kleiderbügel entgegen, doch sie zog den Mantel nicht aus, sondern raffte ihn nur noch enger um sich. Leicht gekrümmt stand sie da, sie schluckte und ließ ihn dann langsam von ihren Schultern gleiten, während sie seinem Blick auswich. Er starrte sie nur an, dann bückte er sich und nahm ihren Mantel vom Boden auf, und ehe er eine Frage stellen konnte, sagte Iris mit leicht vibrierender Stimme:
„Ja, Max, du siehst ja, ich bin schwanger, und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. -Er hat mich auf die Straße gesetzt. Ich sei ihm auf seiner Weihnachtsparty im Weg. Ich sei ihm überhaupt im Weg. Und mit mir könne er ja nicht mehr schlafen.“
Max‘ Gesicht wurde einen Moment eisig. Warum hatte denn auch Iris ihn wegen dieses Mannes verlassen?
„Komm mit nach oben. Ist ja klar, dass du hierbleibst. Wenigstens die kommende Nacht.
Meine Eltern sind verreist, sie kommen erst morgen wieder. Heiligabend. Aber wir feiern ja nicht mehr wie früher. Christkind und Bescherung. Ich bin kein Kind mehr.“
„Ich habe schon seit zwei Stunden versucht, dich telefonisch zu erreichen. Es war immer besetzt.“
„Manchmal spinnt unser Telefon. Es hat immer mal wieder Aussetzer. Aber ich hätte es sowieso nicht mitbekommen, du weißt ja, meine Musik ist immer laut, und dann habe ich meinem Handy telefoniert, bis das Gespräch plötzlich abriss. Leer.“
Er klaubte verstreute Kleidungstücke vom Boden und seinem Sessel auf und machte eine unbestimmte Bewegung.
„Setz dich irgendwohin. – Soll ich was zu Trinken holen? Ich auf jeden Fall habe einen ganz trockenen Mund bekommen.“
„Max, bitte wach auf. Maximilian!“ Iris schüttelte ihn, „Du, ich glaube, das Kind kommt. Ich habe ein solch starkes Ziehen, es wird so rhythmisch, und es häuft sich immer mehr. – Du musst mir ein Taxi rufen, Max, ich muss sofort ins Krankenhaus.“
Verschlafen richtete Max sich auf, murmelte unwirsch etwas, dann nahm er Iris wahr und schwang die Beine aus dem Bett.
„Ich telefoniere, du legst dich wieder hin. Mach hier keinen Stress.“
Max tippte die Nummer eines Taxiunternehmens ein und hielt den Hörer verkrampft an sein Ohr. Es dauerte lange, bis der erste Ton kam, dann jedoch hörte er das Besetztzeichen. Wieder wählte er die gleiche Nummer, doch auch jetzt kam nur das kurze Signal aus dem Hörer. Er wartete einen Augenblick und versuchte es erneut. Wieder das Besetztzeichen. Max griff nach dem Telefonbuch. Im Nachbarort gab es noch ein weiteres Taxiunternehmen. Mit dem Finger fuhr er die Namensleiste hinunter. Tanzschule, Tapetenfachgeschäft, Taxi Gruber. Seine Hände zitterten, als er diese Nummer wählte, doch ebenso wie auch bei den beiden anderen Versuchen, war die Leitung besetzt. Hatten sich denn alle gegen sie verschworen? Brauchten wirklich alle Menschen in diesem winzigen Dorf gerade jetzt ein Taxi?
„Warte, gleich wird es klappen,“ versuchte er Iris zu beruhigen, doch eigentlich sprach er mehr zu sich selbst, während er wieder die Nummer des ersten Unternehmens eintippte, aber es ertönte auch jetzt nur dieses seltsame Fiepen. Max schlug sich vor den Kopf. Der Rettungs- oder Krankenwagen! Warum war er nicht gleich darauf gekommen. Notarztwagen, Polizei oder Feuerwehr. Doch auch jetzt klang das gleiche Signal aus dem Hörer. Zornig warf er das Telefon auf sein Bett.
„Verdammt, unsere Telefonanlage ist wieder kaputt!“
„Aber Max, dein Handy.“ Iris hielt ihm das Mobiltelefon entgegen. „Du kannst doch hiermit telefonieren.“
„Die Karte ist leer. Ich habe vorhin lange telefoniert und plötzlich ist die Leitung zusammengebrochen.“ Er fuhr sich durch seine Haare. „Da bleibt nur eines, ich muss dich selbst wegbringen.“
„Das würdest du für mich tun?“
„Willst du etwa hier dein Kind kriegen? Und soll ich etwa den Geburtshelfer spielen?“
Er griff nach seiner Jacke und einem Wagenschlüssel. Als er die Haustür öffnete, sackte Schnee wie ein kniehohes Brett in den Flur, die Treppenstufen draußen wie auch der Weg zur Garage waren völlig zugeweht. –
Die Reifen griffen knarrend in den Schnee, als der Wagen im dichten Schneetreiben anrollte.
„Keine Sorge, ich kenne den Weg. Wir sind in zwanzig Minuten da. Ich habe zum Glück Winterreifen drauf. Das klappt schon.“
Der Ortsname der Nachbarstadt lugte unter einer Schneemütze hervor, und auch die reflektierenden Leuchtpfähle hatten weiße Hauben. Als Max links abbiegen wollte, sah er die rot-weiße Absperrung und ein Schild ‚Umleitung‘, das in die andere Richtung wies. Obwohl Max diese Straßen recht gut kannte, hatte er nach einiger Zeit das Gefühl, die Richtung völlig verfehlt und die Orientierung verloren zu haben, er sagte davon aber nichts zu Iris.
Iris blickte Max verstohlen an. Warum wurde er so still? Sie drückte mit ihren Händen ihren Leib und stöhnte, versuchte jedoch, ihre Unruhe vor Max zu verbergen.
In der Ferne tauchten zwei Lichter auf, und die tanzenden Schneeflocken siebten das grelle Scheinwerferlicht. Max blinkte mehrmals mit der Lichthupe, er kurbelte die Fensterscheiben herunter und winkte mit der flachen Hand nach unten. Neben ihnen hielt langsam ein Sportwagen. Noch ehe der Fahrer etwas sagen konnte, schrie Max gegen den Schnee an:
„Kennen Sie sich hier aus? Ich habe die Richtung verloren. Diese Frau bekommt ein Kind, und es wird höchste Zeit, dass wir einen Arzt oder ein Krankenhaus finden.“
Der Fahrer reckte sich aus seinem tiefen Schalensitz hoch und blickte in Max‘ Auto, dabei fiel sein Blick auf Iris.
„So so. Hättet ja besser aufpassen können! Wenn man sich so was einbrockt, muss man auch die Suppe auslöffeln. Dann seht mal zu. Frohe Weihnachten.“ Er lachte unangenehm, die Seitenscheibe seines Wagens surrte hoch, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Schneefall wurde wieder heftiger, und die Scheibenwischer schaufelten kleine Streifen Schnee mit sich.
„Ich halte das nicht mehr lange aus, ich habe ein Gefühl, als würden mir die Augen aus dem Kopf herausgeschraubt,“ ächzte Max nach einiger Zeit und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
„Da, Max, schau mal, da ist Licht!“, rief Iris, „da ist ein Haus. Vielleicht können wir da wenigstens telefonieren. Oder auch wenigstens nachfragen, wo wir überhaupt sind. Du hast doch eine Straßenkarte?“
Im Inneren des Hauses brannte Licht, doch der Eingang lag im Dunklen, und so tastete Max mit beiden Händen die Wand neben der Haustür ab, bis er den Klingelknopf fand. Das heisere Bellen eines Hundes erklang, dann kamen schlurfende Schritte näher. Im Flur wurde es heller, und auf dem Schließblech klapperte ein Schlüssel, dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. Ein alter zahnloser Mann mit wirrem Haar sah Max misstrauisch an, und neben seinen Beinen stand ein zerzauster Hund .
Entschuldigen Sie die späte Störung, wir haben wegen des starken Schneefalls die Orientierung verloren. Können wir bei Ihnen telefonieren? Bitte, es ist dringend, wir müssen den Weg zum Krankenhaus finden, auf jeden Fall brauchen wir einen Arzt. “
Der Alte ruckelte seine verrutschte Schlafanzughose hoch, legte eine Hand hinter sein Ohr und zog den Mund schief. „He? Was soll ich? Nen Arzt? Ne ne, ich brauch keinen Arzt.“
„Bitte, aber wir…“ Max hielt ihm die Straßenkarte entgegen und wollte noch etwas sagen, doch der graue Hund knurrte und bewegte sich mit gesträubtem Nackenfell auf ihn zu. Max wich zurück und stolperte beinahe, und in dem Moment warf der Alte die Tür wieder zu und drehte den Schlüssel um.
Fluchend setzte Max die Fahrt fort. Das reflektierende Licht wirkte so, als würden Tausende kleiner Schneemesserchen die Helligkeit zerhacken. Endlich tauchte vor ihnen erneut ein schwaches Licht auf, das sich schwankend auf sie zubewegte, und sie erkannten einen Mann, der sein Motorrad schob. Wieder kurbelte Max die Fensterscheibe herunter und rief dem Motorradfahrer zu:
„Können Sie uns helfen? Ich habe mich völlig verfahren. Die Frau hier bekommt ein Kind. Wir müssen zum Krankenhaus, aber wir wissen nicht einmal, wo wir überhaupt sind. – Haben Sie ein Handy?“
„Ich würd‘ ja gern helfen, aber meine Maschine streikt, außerdem habe ich kein Handy. Ich kann diese neumodischen Dinger nicht ausstehen. Tut mir leid.“
Er kam jedoch näher und blickte durchs Fenster; er sah Iris an und kratzte ratlos seine Wange. „Hm, hm, normalerweise ist man in zehn Minuten dort. Aber heute..? Bei dem Sauwetter. Ihr seht ja, ich habe mit mir selbst zu tun, außerdem muss ich in die andere Richtung und habe auch noch einige Kilometer zu fahren, beziehungsweise schieben. Und das ist verdammt anstrengend.“
„Danke, Sie sind wenigstens freundlich“, hauchte Iris und stemmte die Beine in den Fußraum. Als der Motorradfahrer in dem Schneetreiben verschwunden war, bat Iris:
„Bitte, lass uns weiterfahren. Ich habe Angst, dass ich nicht mehr durchhalte.“
Max fauchte zornig: „Untersteh dich, hier im Auto das Kind zu kriegen!“
Aber was müsste er tun? Wie sollte er sich verhalten, wenn es tatsächlich ernst würde? Wie schnell ging so eine Geburt eigentlich? – Wütend drückte er auf das Gaspedal, doch dabei rutschte das Auto zur Seite. Max atmete mit gespitzten Lippen aus und zwang sich, wieder behutsam und vorsichtig zu fahren, er sah weder zu Iris hinüber, noch sagte er ein Wort. Beide schwiegen, und jeder versuchte vor dem anderen seine Unruhe zu verbergen. Max‘ Hände zitterten ein wenig, und als er die Heizung höher drehen wollte, stieß er versehentlich gegen das Radio, so dass lautstark das Lied: „Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all….“ dröhnte.
„Woher wissen die denn, was hier abläuft?“, fluchte Max sarkastisch und schaltete das Radio wieder ab. Iris kroch noch tiefer in den Wagensitz hinein und fragte leise:
„Du wünscht mich sicher zum Teufel, nicht wahr?“ –
Max winkte nur mit dem rechten Arm ab. „Ach was. Das einzige, was ich jetzt wünsche, ist, endlich in der Zivilisation anzukommen.“ Er legte eine Hand auf ihren Unterarm, „‚tschuldigung, tut mir leid, das gerade. Ich wollte dir nicht wehtun. Hauptsache, dass mit dir und dem Baby alles klappt.“
Iris versuchte ihre Sitzhaltung zu verbessern und ließ die Atemluft nur stotternd aus, „Ich weiß doch gar nicht, wie weit es wirklich schon ist, und ich habe Angst, dass es immer drängender wird und dann…. Meine Güte, ich habe doch auch keine Ahnung!“
„Du hast keine Ahnung?!“, rief Max erbost, „Du bist doch nicht erst seit gestern schwanger! Kann man sich da denn nicht mal schlau machen? – Es ist nicht zu fassen! Und solch eine Blödheit unterstütze ich auch noch! Wenn ich wenigstens der Vater wäre, dann wüsste ich, wofür ich das hier alles tue.“
Iris wischte sich mit ihrem Ärmel den Schweiß von der Stirn und drückte ihr Gesicht an die kühle Seitenscheibe, sie sah in die Dunkelheit und sagte eine Weile nichts mehr, nur ihr unterdrücktes Schniefen und schweres Atmen waren zu hören, bis sie plötzlich rief: „Max, da ist ein gelbes Katzenauge! Da muss ein Weg zu einem Haus führen.“
Beide sahen trotz des wirbelnden Schnees ein geducktes, langes Haus mit einer Reihe schwach beleuchteter, halbmondförmiger Fenster, und als sie im Schritttempo darauf zufuhren, stellten sie fest, dass es Stallfenster eines Bauernhofes waren. Eine Lampe warf ein milchiges Licht auf einen verschneiten Innenhof, und im Zwinger lief ein bellender Hund auf und ab. Max ließ den Wagen sachte ausrollen, öffnete die Tür und setzte vorsichtig einen Fuß auf den Boden. Sein hoher Schuh sank bis über die obere Kante ein. Als er sich umschaute, sah er, dass ein hagerer Mann mit einer Schirmmütze aus einer halbgeöffneter Stalltür herausschaute. Max winkte ihm zu und kam einige Schritte näher, und wie schon vorhin rief er:
„Guten Abend. Hier im Auto ist eine Frau, die gleich ein Kind bekommt. Wir wissen nicht, was wir tun können und wissen nicht, wohin. Bitte, helfen Sie uns, mit was auch immer.“
Der Mann nahm kurz seine Mütze ab, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und sah nochmals prüfend den jungen Mann an, dann ging er auf das Auto zu. Er bückte sich und sah durch die noch offenstehende Fahrertür die junge Frau an. Iris hielt sich am Griff oberhalb des Seitenfensters fest, sie flüsterte einen Gruß, aber ihr Lächeln gerann zu einer schmerzlichen Grimasse. Der Bauer streckte Iris die Hand entgegen und nannte dabei seinen Namen: „Siemann, Bernhard Siemann. – Ja, also, meine Frau und ich, – also, ich sag eben meiner Frau Bescheid.“
Dabei blickte er aus seiner gebückten Haltung schräg nach oben in Max‘ Gesicht, nickte und wies auf die Deelentür.
„Dann bleiben Sie mal besser hier. Irgendetwas wird uns schon einfallen.“
Iris und Max hörten, wie er den Namen Thea die Treppe hinaufrief, und kurz darauf erschien seine Frau im Morgenmantel. Sie sah verschlafen aus. „Es ist fast Mitternacht, Bernhard, ist im Stall etwas passiert?“
„Das Vieh war so unruhig, aber es war alles in Ordnung, doch in der Zeit sind junge Leute gekommen. Stell dir vor, sie sind mit ihrem alten Auto durch den hohen Schnee bis zu uns gefahren. Und jetzt wissen sie nicht weiter, Thea.“
Er fuhr sich mit der Hand durch den Nacken, und statt noch etwas hinzuzufügen, ruckte er mit dem Kopf zur Seite und führte den Blick seiner Frau in die Richtung, in der Iris und Max standen. Thea Siemann kam zögernd die Treppe hinunter, und als sie die junge Frau sah, schlug sie die Hände vor den Mund. „Wie sind Sie denn hierhergekommen? Bei diesem fürchterlichen Wetter und unter diesen Umständen.“
Max zuckte nur mit den Schultern und wies auf Iris.
„Wir mussten ja, aber unterwegs fing es noch stärker an zu schneien. Ich wir mussten so langsam fahren, und deshalb weiß ich noch nicht einmal, wie weit wir überhaupt schon gekommen sind.“
Thea Siemann beugte sich zu Iris hinunter, die sich auf einer niedrigen Kommode niedergelassen hatte und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Im wievielten Monat sind Sie denn? So, wie Sie aussehen, kann es ja nicht mehr lange dauern.“
Iris ächzte und stand schwerfällig wieder auf. „Ich habe Angst, dass es noch in dieser Nacht kommen wird. Die Wehen sind schon so heftig.“
Thea und Bernhard blickten sich an, und anders, als sie vorhin noch miteinander gesprochen hatten, redeten sie nun plattdeutsch. Er griff zum Telefon und horchte wartend, und wieder sprach er mit jemandem plattdeutsch. Er redete sehr hektisch, und sein Blick ging immer wieder zu Iris und zum Telefon zurück. Die beiden jungen Leute sahen sich an und zuckten nur mit den Schultern, denn sie verstanden nichts von dem, was er sagte.
„Er spricht mit einer alten Hebamme, die hier in der Nähe wohnt“, erklärte Thea , „und wir überlegen, ob er sie nicht mit dem Traktor hierher holen sollte. Alles andere ist ja schon Leichtsinn.“
Sie sind ja noch recht junge Eltern, werdende Eltern,“ sagte sie lächelnd, als sie Kaffee eingoss, aber Max wedelte mit erhobener Hand ab.
„Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Ich habe Iris nur zum Krankenhaus bringen wollen, doch statt dessen sind wir jetzt hier.“
„Und ich glaube, dass Sie hier gut aufgehoben sind“, lächelte Thea Siemann.
Endlich hörten sie das schwere Motorgeräusch des Traktors, und kurz darauf trat eine kräftige, weißhaarige Frau ein.
„Das ist Frau Bäcker, die früher in diesem Ort als Hebamme gearbeitet hat.“
Frau Bäcker ging zu Iris, die in einem kleinen Zimmer wartete, und nach einer Weile kam sie zurück und sagte zu Max: „Die junge Frau möchte gern mit Ihnen sprechen. Es dauert noch etwas, bis das Kind kommt.“
Die Hebamme sah seinen entsetzten Blick und setzte sich ihm gegenüber, und während sie durch ihren heißen Kaffee rührte, sagte sie eindringlich:
„Gehen Sie zu ihr. Sie sind stärker, als Sie denken. Die Iris braucht jetzt jemanden, der ihr zeigt, dass sie nicht ganz alleingelassen worden ist. Es ist ohnehin alles schwer genug, vor allem, wenn man nicht weiß, wie es danach weitergehen kann.“
Max wich ihrem Blick aus, nickte aber und ging in das kleine Zimmer.
„Danke, dass du kommst, Max…“, sagte Iris leise und streckte ihm ihre Hand entgegen, „bitte, bleib ein wenig bei mir, ich weiß, dass ich dir viel zumute.“
Er strich über ihren Handrücken. „Ist schon gut. Als ich vor der Tür stand, erinnerte ich mich daran, wie wir uns in die Hand versprochen hatten, immer füreinander da zu sein. – Es ist zwar alles anders gekommen, und wir werden eigene Wege gehen, aber…“ Er räusperte sich und zwinkerte plötzlich mit einem Auge: „Wie wär’s, du könntest mich ja als Paten nehmen.“
Im Morgengrauen weckte ihn Thea Siemann, und als Max sich aufrichtete, hörte er ein zartes Schreien, die ersten Rufe eines kleinen Menschen.
„Kommen Sie, kommen Sie, Max, das Baby ist da! Heute ist Heiligabend, es ist ein Christkind, ein Weihnachtskind.“