Mein Schwiegervater hatte Geburtstag. Ich mag ihn sehr gern, und er hat nichts dagegen einzuwenden, dass ich ihn mit seinem Vornamen Paul anrede. Wir saßen auf der Terrasse, um miteinander Kaffee zu trinken. Mein Mann, sein Bruder, meine Schwägerin und ich waren eingeladen, und Sybille, die jüngste Schwester von Johannes und Andreas, hatte sich, wie schon häufig, verspätet.
Ich hatte mir vorgenommen, meiner Schwiegermutter zur rechten Zeit behilflich zu sein. Doch ich sah einen Augenblick zu spät, wie sie mit der großen Eistorte aus dem Haus kam. Hastig sprang ich auf, allerdings riss ich dabei den Zipfel der Tischdecke mit. Eine Tasse mit Kakao und Sahne kippte um, und der Inhalt ergoss sich über ein Hosenbein meines Schwiegervaters. Glücklicherweise war der Kakao nicht mehr heiß! Himmel, war mir das peinlich, zumal Paul ein steifes Bein hat und ihm das Gehen wie auch das An- und Ausziehen Schwierigkeiten bereitet. Meine Schwiegermutter Charlotte (die ich jedoch nicht so anrede !) betrachtete missbilligend das Malheur. Sie setzte die Eistorte auf den Tisch und meinte kühl:
„Wenn meine Schwiegertöchter sich doch nur einmal wie Damen benehmen könnten!“
Meine Schwägerin hatte schon einen Lappen geholt. Erleichtert griff ich danach. Ich beugte mich über das nasse Hosenbein meines Schwiegervaters, dabei entschuldigte ich mich erneut. Paul zog sein akkurat gefaltetes Taschentuch aus der Hosentasche, tupfte halbherzig die Kakaobrühe von dem Stoff und kniff mir ein Auge zu. Ich wusste nicht genau, was er meinte, zumindest schien er mir nicht böse zu sein. Mein Mann hockte sich neben mich und kümmerte sich um die Scherben. Dabei sagte er halblaut zu mir:
„Bleib locker, auch wenn es schwerfällt. Manchmal ist Mutter unmöglich.“
Er half seinem Vater beim Aufstehen und begleitete ihn ins Haus.
Als wir uns wieder an den Tisch gesetzt und alles einigermaßen gerade gezupft und hergerichtet hatten, blickte Schwiegermutter in die Runde und schnitt die Eistorte an. Während sie sie verteilte, lächelte sie selbstzufrieden und stolz den Tortenstückchen zu.
„Ich weiß doch, dass ihr meine selbstgemachte Eistorte gern mögt. So etwas bekommt ihr gewiss Zuhause nicht.“ Schließlich kam Paul wieder auf die Terrasse. Er setzte sich und blickte uns alle kopfschüttelnd an.
“Ihr tut gerade so, als wäre hier was passiert. – Kinder, nun esst doch mal was! – Ich habe mir nur eben eine andere Hose angezogen. Die kneift nicht so wie die neue.“
Pikiert erhob Charlotte den Kopf und wollte gerade etwas erwidern, da hörten wir die kleine Gartenpforte scheppern. Sybille kam über den Gartenweg auf die Terrasse. Sie hat eine lockere Art, solche unverzeihlichen Dinge wie Unpünktlichkeit zu überspielen, und so wedelte sie mit einem Strauß Blumen allen fröhliche Grüße zu. Sie umarmte ihren Vater und gratulierte ihm. Ihre Mutter saß am gegenüberliegenden Ende des Tisches. Charlotte erhob sich von ihrem Stuhl, neigte sich ihrer Tochter entgegen, die Wange schon für ein Begrüßungsküsschen hingehalten. Beide kamen sich hierbei näher als gewünscht, denn dabei verhakte sich unbemerkt die lange Perlenkette Charlottes in einer großen geschwungenen Anstecknadel, die Sybille an dem Revers ihres Blazers trug. Beide wollten sich wieder aufrichten, doch es ging nicht. Ineinander gehakt standen sie unfreiwillig gebeugt über der Eistorte. Charlotte schielte unwillig auf diese ungewollte Verbindung und bewegte gereizt ihre Schultern. Dabei machte es ganz leise Knack. Die Kette löste sich nicht nur von der Brosche, sondern sie riss, und die Perlen rieselten auf die schon heimlich vor sich hinschmelzende Eistorte. Sie sanken rasch ein.
Wir lachten alle so heftig und anhaltend, so dass wir uns die Tränen aus den Augenwinkeln wischen mussten, und immer, wenn wir versuchten, wieder ernst zu werden, prusteten wir erneut los; einer steckte den anderen von neuem an. Charlotte blickte uns erbost an und jammerte um ihre Kette. Sie wollte die Torte schon vom Tisch nehmen, da sagte Paul laut und bestimmend, jetzt wolle er aber gern ein Stück von der kostbaren Torte haben, denn er habe sich immer schon gewünscht, einmal Perlen zu finden.
„Aber doch nicht meine Perlen!“ rief Charlotte empört, „nein, Paul, nicht noch das! Damit du sie etwa noch verschluckst, was?“
Entschlossen setzte sie die schon bedenklich zerlaufende Eistorte auf das Tablett und eilte damit ins Haus. Dort siebte sie mit Hilfe eines feinmaschigen Netzes die Perlen aus der süßen Masse und brauste sie gründlich ab.
Später, als ich meinem Schwiegervater anbot, die Reinigungskosten für seine Hose zu übernehmen, schüttelte er lächelnd den Kopf und meinte, es sei ihm sogar sehr gelegen gekommen, denn so habe er den neuen unbequemen Anzug ablegen und seine verschlissene Lieblingshose anziehen können. Erneut ließ er sein jungenhaftes Kichern hören und meinte, der Spaß mit der Perlentorte sei ihm einiges wert. Immerhin hätte er so fast ein Perlenfischer werden können.
Seit dem Tag heißt diese wirklich unnachahmliche Süßspeise nicht mehr Eis- oder Grillage-Torte, sondern Austerntorte.
Die Austerntorte geht in die Familiengeschichte ein, da bin ich sicher. Allerdings wird es sie wahrscheinlich nicht wieder geben. Eigentliche schade. Es sei denn, meine Schwiegermutter würde in Zukunft auf lange Perlenketten verzichten, – wenigstens beim Kaffeetrinken.