Warten auf Weihnachten

Menschen hasten mit prall gefüllten Einkaufstaschen durch die Straßen. Hektik liegt in der Luft. An Heiligabend sind die Geschäfte nur bis zum Mittag geöffnet: Es ist die letzte Gelegenheit, einzukaufen. Die Weihnachtsbäume sind fast fertig geschmückt, es fehlen nur noch die goldenen Kugeln, in denen sich die Kerzen festlich spiegeln können. In den Feinkostgeschäften sind die geräucherten Forellenfilets wie auch der russische Kaviar beinahe ausverkauft.  

Vom Weihnachtsmarkt zieht Glühweingeruch herüber und aus Lautsprechern lärmt: ‘Stille Nacht, Heilige Nacht’. Obdachlose stehen am Rande der Fußgängerzone. Wohl dem Bettelnden, der einen Hund besitzt. Er zieht Aufmerksamkeit auf sich. Ein hungriger Hund berührt das Herz. Die sentimentale Stimmung macht großzügig.
Es wird kälter, die Einkaufszonen leeren sich. Im Schatten der Weihnachtsbeleuchtung atmet die Einsamkeit. Sie wird nicht mehr wahrgenommen, beiseite gedrängt, und doch ist sie stummer Begleiter der meisten, die jetzt noch hier sind. Gleißende Reklame und Scheinwerfer der heimwärts fahrenden Autos spiegeln sich im nassen Asphalt, flimmern doppelt schmerzhaft, wenn kein trockenes und warmes Zuhause da ist, in das die Heimatlosen fliehen könnten.

Der geheizte Bahnhofsimbiss ist Zufluchtsort, ist immerhin Durchgangsstation. Er ist ein Winkel des Wartens und auch Ort des Verlassenseins. Ein winziger künstlicher Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern steht auf der Theke.  An den Tischen halten sich Menschen fest, deren Weihnachtspaket ihr Rucksack oder eine Plastiktüte ist. Gefrorene Gefühle, verzweifelte Hoffnung. Niemand spricht.

Ein Stehtisch ist frei, ein Tisch noch ohne Pappbecher als Platzhalter. Immer wieder blicken die Schweigenden zur Schwingtür, als erwarteten sie jemanden. Ein Fremder kommt, bestellt etwas und schiebt zufrieden seine Schale mit der Currywurst auf den freien Stehtisch. Er steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat zu essen und zu trinken. Er leckt sich den Bierschaum von der Oberlippe, schaut sich um und verlässt eilig diesen Ort.

Für die Hiergebliebenen ist dieses ein Abstellplatz der Aussichtslosigkeit. Jeder hält sich an seinem heißen Glühweinbecher oder seiner Kaffeetasse fest. Eine Option auf ein bisschen Wärme; berechtigt sein, hier im Trockenen stehen zu dürfen. Der Becher wird langsam leer. Die Einsamkeit rinnt von den gestrichenen Wänden, zieht unsichtbare, unzählige Bahnen in die abweisenden Flächen. Frisch gestrichen. Alles frisch weggestrichen. Durchgestrichen. Durchtränkt von feuchtem Hauch der Verzweiflung. Im Raum hängt die Furcht vor der Minute, diesen Wartesaal verlassen zu müssen. Die Uhr an der Wand tickt. Auch dieser geheizte Raum wird abends geschlossen.

Die Schlucke werden kleiner, aufgesparter. Mit jedem Biss, mit jedem Schluck rückt die Minute des Verlassens und der Verlassenheit näher. Die Berechtigung, sich hier aufhalten zu können, gilt für diejenigen, die noch Geld auf den Zahlteller legen können, für ein Brötchen oder für ein heißes Getränk. Wärme für die Hände, die Lippen und den Magen. Es bedeutet auch, eine kurze Weile Anteil zu haben an der verrauchten, abgestandenen Heizungsluft. Dieser Aufenthalt lässt teilhaben an einer Gemeinschaft, die fremd ist, die jedoch einander nicht den Rücken kehrt. Endstation, ohne sentimentale Weihnachtsstimmung.

Doch an diesem Ort zu sein, lässt vielleicht zu, wenigstens einen freundlichen Blick des Gegenübers erhaschen zu können; einen Augen-Blick, der verbinden kann, der nicht ausgehöhlt oder gleichgültig ist. Hier noch warten zu können, ist eine armselige Galgenfrist, die wenigstens das Gefühl vermittelt, dazuzugehören. Es kann der Augenblick sein, der gestattet, Weihnachten zu erahnen. Es kann dieser  Moment sein, der es zulässt, Brücken zu bauen, um als Mensch wahrgenommen zu werden.

 

 

 

 

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