Lebenszeichen

Die alte Frau stand mit gebeugtem Rücken an der Wasserstelle. Als der hohle Klang in ihrer Kanne heller und satter wurde, drehte sie den Wasserhahn umständlich zu. Sie presste die Lippen zusammen und setzte das Gefäß auf den Boden. Obwohl die tiefstehende Nachmittagssonne sie blendete, nahm sie den Mann wahr, der ebenfalls zur Brunnenanlage kam. In diesem gleißenden Gegenlicht wirkte sein lichtes Haar flirrend wie ein Heiligenschein, sein Gesicht aber lag im Schatten.

„Sie sind auch oft hier, nicht wahr,“ bemerkte er freundlich und setzte seine Blumenkiste auf den Boden. Die Frau strich über ihren Rock und antwortete leise: „Ich suche meinen Mann. Ich suche ihn immer wieder, aber ich weiß nicht, wo sein Grab ist.“ Ehe er nachfragen konnte, kam sie ihm zuvor und murmelte: „Er war Feuerwehrmann, beinahe dreißig Jahre lang. Er war immer für andere da…“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihre Stirn und fuhr mit blecherner Stimme fort: „Doch vor mehr als zehn Jahren kam er bei einem verheerenden Brand ums Leben. Es gab eine Explosion. Niemand hat die Toten finden können.“ Sie drehte sich im Halbkreis und stieß mit der flachen Hand in verschiedene Richtungen. „Irgendwo müsste doch sein Grab sein. Stellvertretend jedoch pflege ich eine fremde Grabstelle, der schon lange niemand mehr Beachtung geschenkt hatte.“ Nachdenklich schaute der Mann ihr nach. Er erinnerte sich, wie damals drei Feuerwehrleute ums Leben gekommen waren, als die Kornbrennerei von einem wütenden Feuer vernichtet worden war. Inzwischen befand sich dort eine Schnellstraße, die ausschließlich für den Autoverkehr bestimmt war. Dieses war tatsächlich kein Ort, zu dem man einen kleinen Strauß oder ein Friedhofslicht hätte bringen können.

Das unscheinbare Seitentor fiel mit einem metallischen Scheppern hinter dem Mann zu, als er seine Kanne auf den Seitenfriedhof trug. Hier waren immer noch die alten Grabstätten derjenigen, deren Art des Todes die Kirche damals nicht gebilligt hatte. Der Mann entnahm seiner Korbtasche einen kleinen Frühlingsstrauß. Er zupfte die Blumen zurecht und murmelte noch etwas in den kleinen Strauß hinein, dann klemmte er ihn in eine schmale Steckvase. Schließlich erhob er sich mit knackenden Knien. Durch die Zweige der hochgewachsenen Bäume fielen wärmende Sonnenstrahlen auf die Gräberreihen. Auf den schmalen Aschewegen standen an vielen Stellen Paletten und Kisten mit leuchtenden Frühlingsblumen. Freundliche Begrüßungen und Unterhaltungen lösten die Stille des Winters ab.

An sonnigen Tagen saß auf einer der Bänke oft ein alter Mann. Er brachte stets seinen Dackel mit, obwohl hier Hunde unerwünscht waren. Tiere, so behauptete er, bildeten häufig Brücken zu zwanglosen Gesprächen. Es schien so, als sehne der Alte sich nach Aufmerksamkeit und Beachtung durch die Vorbeigehenden. Er hasste jedoch die Geräusche von Mopeds und der quietschenden Fahrradbremsen, ebenso die lebensfrohen Stimmen der Jugendlichen. Missmutig schaute er hinüber. Er bedauerte, ihnen den Aufenthalt hier nicht verbieten zu kön-nen. Inzwischen war der magere Mann mit der Gießkanne zurückgekommen. Als er an der Bank vorüberging, grüßte er den Alten aufmerksam. Er nieste jedoch plötzlich und zog rasch sein Taschentuch aus der Hosentasche. „He, Sie haben was verloren“, rief der Alte hinter ihm her. Er schwenkte ein fast zerfasertes graues Leinenpapier wie einen kleinen Wimpel. „Sieht aus wie ein Führerschein.“ Er hielt das graue Formular eine Armlänge von sich ab, schloß die Augen zu schmalen Schlitzen und sah zu dem Mann hoch, dann wieder auf das Foto des Führerscheins: „Ehm, – heißen Sie Kurt oder Herrmann?“ „Kurt, Kurt Herrmann, antwortete der Mann,“ ich heiße Kurt, das ist mein Vorname. Nennen Sie mich so. Wir kennen uns doch mehr oder weniger, wir sind ja sozusagen Friedhofsbekannte.“

Er hockte sich neben die Bank und streichelte den Hund, als habe der das Dokument gefunden, dabei murmelte er erneut ein Dankeschön. Der alte Mann beugte sich vor. „Wo wir schon bei Namen sind: Ich heiße eigentlich Franz, Franz Knoche. Man kennt mich hier eher unter dem Namen ‚Stiefel’“. Dabei klopfte er auf sein linkes Bein. Erst jetzt bemerkte Kurt die Holzprothese, die in einem eigens dafür angefertigten hohen Schuh steckte. Stiefel zog das Hosenbein ein wenig höher und nickte stolz, als zeige er auf eine Trophäe.
„Zweiter Weltkrieg. Drei Jahre an der Front. Habe den Tod vor Augen gehabt, all die Kameraden um mich, die getroffen wurden. Blutgetränkte Erde dort. Lauter anonyme Gräber.“ Seine Stimme senkte sich. „Bloß ich bin übriggeblieben…. – Kann von Glück sagen, dass ich noch lebe“. Er winkte grimmig ab. „Könnte noch stundenlang davon erzählen, aber davon will ja heute niemand mehr etwas wissen. Die Jugend hat ja sowieso keinen Respekt mehr vor dem Alter. Die haben nur noch ihr Vergnügen im Kopf. Die sind rücksichtslos und frech.  Wie die schon aussehen! – Pack!“

„Jetzt fängt der schon wieder an!“ hörte er dicht hinter sich jemanden schimpfen. Stiefel fuhr zusammen, als sich ein zorniges Mädchen aus dem Schatten der Hecke löste und auf ihn zukam. „Was habt ihr hier ausgerechnet am Friedhof zu suchen?“, brauste Stiefel auf und stampfte mit seinem Stock auf den Boden. „Ist dies hier ein Tummelplatz für Halbstarke? – Wer seid ihr überhaupt?“ Das Mädchen warf die langen Haare zurück und erklärte mit spitzem Ton: „Ich bin Lena, der dort ist Stefan, und der da drüben an der Hecke bei den Mopeds, das ist Thomas.“ „Übrigens“, mischte sich Stefan ein, „wir werden uns hier wohl noch aufhalten dürfen. Ich wohne in der Stichstraße dort. Es läßt sich also kaum vermeiden, daß ich mal hier bin.“ Der dritte, der inzwischen auch aus der Nische hervorgekommen war, stieß dem Freund mit dem Ellbogen in die Seite und ruckte mit dem Kopf in die Richtung Stiefels: „Ich habe keine Lust, mit dem zu diskutieren. Er hat ja Recht“, lästerte er, „wir haben hier nichts zu suchen. Eintritt nur für alte Leute.“

Kurt räusperte sich und fragte gedämpft: „Kannst du dir vorstellen, was es heißt, jemanden zu früh verloren zu haben? – Man muss nicht erst alt sein, um zu sterben.“ Inzwischen war die alte Frau dazugekommen. Als Stiefel ein wenig zur Seite rückte, setzte sie sich neben ihn auf die Bank und stellte ihre Tasche ab. „Unser Friedhof, ein Platz, an dem sich alle treffen, alle. Irgendwann. Ja, und jetzt wir hier an dieser Bank.“ Sie schaute freundlich jeden der Reihe nach an, wandte sich dann aber an die beiden Jugendlichen: „Ich wollte euch immer schon fragen, warum ihr so häufig kommt. Es muss doch etwas sein, was euch ausgerechnet hierherzieht.“
„Zufall, es hat sich halt so ergeben“, antwortete Lena, „aber wir besuchen hier weder Tote, noch sind wir besonders religiös, – obwohl wir aus ‚gut katholischen‘ Elternhäusern stammen.“ Stefan grinste und spöttelte ebenfalls: „Außerdem vermuten uns unsere Eltern hier am wenigsten.“

Die Witwe legte ihre Hände fest umeinander. „Aber ihr werdet zuhause wenigstens erwartet! Ihr wisst, wohin ihr gehört und wohin ihr am Ende des Tages gehen könnt. Junge Menschen sind nicht einsam. Für mich ist es so, als wäre keine Heimat mehr da.“ Kurt erinnerte sich an ihre Worte an der Wasserstelle. Kam nicht auch er selbst hierher, weil er diesen äußeren Ort der Verbindung zu seiner Frau brauchte? Die alte Frau strich sich mit dem Handgelenk durch einen Augenwinkel, als sie hinzufügte: „Liebe über den Tod hinaus bedeutete für uns, das Grab des anderen sorgfältig zu pflegen. Doch inzwischen habe ich das Gefühl, daran zu zerbrechen. Wie soll ich denn ein Grab pflegen können, das es gar nicht gibt?“ Lena drückte sich von dem Stamm einer krummgewachsenen Buche ab. Sie zögerte, dann bückte sie sich und sah der Frau ins Gesicht. „Wenn man gläubig ist, kann man dann nicht…, ehm, ich meine, muss man dann unbedingt ein Grab besuchen? Ich finde, dass ein Verstorbener überall dort sein kann, wo man an ihn denkt.“

Die alte Frau krallte ihre zitternden Hände fest um die Kante der Sitzbank. Sie hockte da wie ein hilfloses Vögelchen und nickte stumm. Verwirrt über ihre eigenen Worte, erhob sich das Mädchen wieder. Stiefel um-fasste den Knauf seines Stockes mit beiden Händen. Er legte sein Kinn darauf und ließ seinen Blick ins Leere laufen. In der Nähe der Bank befanden sich eine weitere Wasserstelle wie auch Abfallkörbe für Blumen und Kränze. Schritte knirschten auf dem Weg, der Wasserhahn wurde quietschend aufgedreht und ein hartes Rauschen schnitt das Gespräch auseinander. Kurt hoffte, dass diese eigentlich fremde und doch intime Gemeinschaft sich davon nicht stören lassen würde. Jetzt brauchte er jemanden, mit dem er über seine immer noch schwelende Trauer und Bitterkeit reden konnte. Jetzt suchte er jemanden, der ihm zuhören würde. „Seit fast zwanzig Jahren gehe ich wöchentlich einmal auf den alten Nebenfriedhof“, begann er hastig und räusperte sei-nen rauen Stimmbelag fort. „Da hinten, in der letzten Gräberreihe, liegt meine Frau begraben. Sie hat sich aus Verzweiflung das Leben genommen. Sie konnte nicht damit fertig werden, dass sie erneut eine Fehlgeburt gehabt hatte und dass man dann….“ Kurt tastete die Blicke der anderen ab, ehe er weitersprach: “ Wo das ungeborene Kind geblieben sind, haben wir nie erfahren“. Seine Hand fuhr wie ein Messer durch die Luft. „Ehe wir überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnten, war es fort! Es ist irgendwohin gekommen in der Klinik, in den Abfall, als sei es Sondermüll! – Es ist ‚entsorgt‘ worden, weil sein Gewicht viel zu gering war.“

Er merkte nicht, wie laut er geworden war und dass andere Friedhofsbesucher inzwischen schon neugierig zu ihnen herüberschauten. „Verlor es durch sein Unglück das Recht, auch wie ein Mensch behandelt zu werden? – Warum wurde diesem kleinen Menschen, – und wenn es noch so ein Würmchen war, – plötzlich die ganze Würde abgesprochen?“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Zu klein, zu leicht, deshalb keine Geburtsurkunde. Also weg damit! – Was sind wir denn in diesem Land schon ohne Urkunden!“ „Bedenken Sie, es musste aber gewisse Richtlinien geben!“, wandte Stiefel kühl ein und richtete sich kerzengerade auf. Kurts Stimme blieb trotz seiner wachsenden Erregung unheimlich dunkel und tonlos, sie wirkte wie etwas Bedrohliches, das sich durch einen Tunnel nähert. „Der Pfarrer hatte damals einem offiziellen kirchlichen Begräbnis nicht zugestimmt. Selbstmörder haben keinen Anspruch darauf, sagte er. – Sie hat sich zwar das Leben genommen, aber nicht sich selbst ermordet!“ Dabei stach er bei jedem Wort mit seinem Zeigefinger in die Richtung Stiefels. Der alte Mann hielt Kurt abwehrend seine Handfläche entgegen. „Herr Kurt, bei allem Respekt, aber niemand hat das Recht, sein Leben eigenmächtig zu beenden!“ Kurt schob sein Kinn herausfordernd vor. „Und was ist mit den Trauernden? Den Angehörigen? Ich war mehr oder weniger allein.“ Er klopfte sich mit drei Fingern gegen seine Brust: „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott so kleinkariert ist und sogar Platzkarten vergibt.“ Mit einem Blick zum Himmel meinte er ohne Überleitung: „Ich muss gehen, das Wetter schlägt um.“ Auch die alte Frau stand auf. Während sie mit Lena und Stefan den Friedhof verließ, sagte sie: „Wer will wissen, was richtig ist? – In China sagt man, daß ein Kind bei der Geburt schon ein Jahr alt ist.“

Auch am nächsten Tag führte Stiefels Spaziergang zum Friedhof. An der Mauer lehnte Kurts Fahrrad. Statt sich sofort wie üblich auf dem gewohnten Platz niederzulassen, humpelte Stiefel zum Außenfriedhof. Dabei schwang er bei jedem Schritt das hölzerne Bein in einem winzigen Halbkreis mit sich. Seit gestern sah er den Mann anders. Er bereute es, ihn so zurechtgewiesen zu haben. Als er auf das Grab zuging, richtete sich Kurt mit rotem Kopf auf. Der Alte hüstelte und drehte seinen Hut an der Krempe hin und her, dabei vermied er, Kurt anzusehen. „Gestern, – also, ich meine, es tut mir leid, daß ich mich Ihnen gegenüber so taktlos verhalten habe“, stammelte er und zog seine Nase hoch wie ein kleines Kind. „Ich glaube, ich kann Menschen, die freiwillig ihr Leben beendet haben, deshalb nicht verstehen, weil der Krieg mir die Hälfte meines Lebens kaputtgemacht hat. Und ich habe es damals so geliebt.“ Mit einer Andeutung von Verbeugung setzte er seinen Hut wieder auf und wandte sich ab.

Kurz darauf betrat auch Lena den Nebenfriedhof. Am Ende der Reihe befand sich ein liebevoll gestaltetes Grab, auf dem zwei Findlinge lagen. Einer davon war sehr klein. Mit einem Mal spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Kurt räusperte sich leise und fuhr mit den Fingerkuppen über den Kamm seiner Harke. Du bist aber früh da. Ihr kommt doch erst immer im Spätnachmittag hierher“. „Ach, wissen Sie, meine Eltern haben ein Geschäft. Ihr Feierabend findet vorwiegend in Tennishallen oder Fitnessstudios statt. Es wartet eigentlich niemand auf mich.“ Lena sah auf ihren Schuh, mit dem sie kreisend auf den Boden drückte, als wolle sie ein Insekt tot quetschen. „Ich glaube manchmal, sie würden erst dann merken, dass sie eine Tochter hatten, wenn ich nicht mehr da wäre.“ „Wie kannst du nur so reden! Und dann kommst du ausgerechnet hierher und wählst noch zusätzlich die Einsamkeit?“ Lena zuckte mit den Schultern und blinzelte in die zarte Frühjahrssonne. „Das Alleinsein ist ein Gefühl, das ich gut kenne. Vielleicht liegt’s einfach daran“. Sie tippte sich gegen die Stirn und grinste. „Keine Sorge, ich bin trotzdem ganz normal“. Sie zog ein Päckchen Kaugummi aus ihrer Jeanstasche und hielt es Kurt entgegen. Umständlich fingerte er sich einen Streifen davon heraus. Lena klopfte die restlichen Plättchen wieder zusammen und wies damit auf die Kisten voller Narzissen und Stiefmütterchen. „Gerade in der Zeit vor Ostern kann man hier eine Explosion von Frühlingsfarben beobachten. Mich fasziniert diese geniale Mischung von Erwartung und Erinnerung.“

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