Endlich Urlaub

„Unter anderem ist die Stadt Boston bekannt durch ihr weltberühmtes Sinfonieorchester…“, las ich erneut im Reiseführer, ehe das Flugzeug startete. Ich freute mich auf Boston. Lange hatte ich für diesen Flug gespart. Ich war mir sicher, dass ich an solch eine aufregende Reise noch lange denken würde. Obwohl ich noch nie geflogen war, genoss ich den Start des Flugzeugs wie auch das großartige Gefühl, über der Erde zu schweben. Mit gespielter Gelassenheit sah ich der Stewardess zu, wie sie mit Händen und Füßen die Sicherheitsmaßnahmen erklärte. Verstohlen schaute ich unter meinen Sitz, ob auch ich diese Schreckensutensilien mitbekommen hatte. Es war alles da. Die angenehme Stimme des Piloten klang vertrauenserweckend, als er sich vorstellte. Ich hätte ihn gern zumindest kurz auf einem der Monitore gesehen. Auf jeden Fall aber hatte ich das Gefühl, dass nun nichts mehr schiefgehen konnte. Als ich mich umsah, fielen mir die vielen weiblichen Fluggäste mit farbenprächtigen Saris auf, ebenso auch vereinzelt Männer, die einen Turban trugen. Allerdings wusste ich, dass in Boston auch indische Auswanderer ihre Heimat gefunden hatten. Offenbar hatten sie sich alle verabredet, diesen Flug zu nehmen, dachte ich amüsiert.

In der Nacht zuvor hatte ich vor Aufregung nicht einschlafen können. Daher hatte ich gegen mein Reisefieber Valium eingenommen, sodass ich nach dem Essen direkt selig einschlief. Erst als mich die Stewardess freundlich weckte, schreckte ich aus meinem Schlaf auf. Hatte mein Schlafmittel so stark gewirkt? – Ich schaute aus dem kleinen Fenster. In der Dunkelheit wirkten die unzähligen Lichter der Stadt mehr als beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass Boston so groß wäre.

„Unsere Crew möchte sich hiermit von Ihnen verabschieden. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Bombay“. Ich genoss noch einmal die Stimme des Flugkapitäns, deshalb hörte ich nur halb zu. Bombay. Was hatte er gesagt?! – Bombay?! – Ich fuhr hoch, aber der Sicherheitsgurt schnitt mir in den Bauch. Verzweifelt sprach ich meinen Sitznachbarn an. Bis jetzt hatten wir uns nur freundlich angeschwiegen. Er antwortete mir jedoch nur mit einem schnarrenden unklaren Englisch. Ich konnte ihn kaum verstehen, doch auch er sprach von Bombay. Oh Gott, sollte ich wirklich den falschen Flieger erwischt haben? War denn das überhaupt möglich? –
Von den Reisenden wurde ich über die Gangway gedrängt. Der Geruch der Stadt war, gelinde gesagt, auffallend intensiv. Dicht um mich herum drängten sich Menschentrauben mit Taschen und Kisten, während auch ich auf meine Koffer wartete. Schließlich taumelte das letzte Gepäckstück über das Laufband. Meine Siebensachen waren nicht dabei gewesen; das Laufband wurde nun abgeschaltet. Ich hatte lediglich meine Handtasche und das kleine Bordgepäck bei mir. Ich wurde durch die Kontrolle gewunken, ohne dass jemand einen näheren Blick auf meinen Pass geworfen hatte. Zwar entwirrte sich die lange Schlange der Passagiere, doch nun umringten mich aufdringliche Kofferträger. Was hätte ich denn tragen lassen sollen, verdammt? Gab es hier einen Schalter, an dem ich mein verlorengegangenes Gepäck hätte melden können?

Ich drückte meine große Handtasche und den Bordkoffer an mich und stolperte nach draußen. Vor dem Flughafengebäude parkten unglaublich viele Taxis. Das war also Indien! Indien, das in vielen Reiseführern als Traumland gepriesen wurde. Für mich bedeutete es momentan eher ein Alptraum, hier zu sein. Und jetzt war ich hier in dem Menschengewimmel und dem Lärm, den die hupenden Autos machen. Hier war ich verloren. Ich hatte ja weder Gepäck noch Begleiter, weder indisches Geld noch eine Ahnung, an wen ich mich überhaupt hätte wenden können. Die ganze Welt, zumindest Bombay, hatte ich gegen mich. Vor mir kippte ein Pappschild um, so eines, mit dem Taxifahrer Hotelgäste abholten. Zornig stieß ich es mit dem Fuß beiseite und schickte noch einen wütenden Blick hinterher. Da stutzte ich. „Pechstein“, stand auf dem Plakat. Pechstein! Meinen eigenen komischen Namen kannte ich schon in fünfundfünfzig Versionen, Pechstein war auch darunter. Das war meine Chance! Als der Inder sein Schild aufheben wollte, trat ich ihm künstlich lächelnd in den Weg und wies auf mich und auf das Schild. Er nickte erleichtert und bahnte mir einen Weg zu seinem Taxi.

Während der Fahrt wurde es mir fast schwindelig von den Eindrücken. Nie hatte ich so viele dicht beieinander lebende Menschen gesehen, nie eine solch schmutzige Stadt erlebt. In den Bildbänden wie auch im Fernsehen glänzte immer alles. Als das Taxi vor einer roten Ampel hielt, drehte sich der Fahrer zu mir um. Er erklärte mir, ebenfalls in schnarrendem Englisch, dass man mich schon zu einer Konferenz im Hotel erwartete. Man erwartete mich?! Wer sollte mich denn erwarten? Ach verflixt, ich hieß ja seit ein paar Minuten Pechstein. Vermutlich Frau Pechstein, ansonsten wäre der Taxifahrer ohnehin stutzig geworden und hätte mich nicht mitgenommen. Was sollte ich nur tun? Hier konnte ich nicht einfach aussteigen. Hier konnte ich mich nicht mit einer Ausrede an der nächsten Straßenecke absetzen lassen. Denn sobald das Taxi nur hielt, standen Trauben von bettelnden Menschen neben dem Wagen, klopften an die Scheiben und machten mit den Fingern Zeichen, dass sie etwas zu Essen brauchten.

Mein Mitleid mit den Armen wuchs, doch ich hätte ihnen nicht einmal eine kleine Münze zustecken können. In meiner Tasche befanden sich ausschließlich Dollars und Reiseschecks für Amerika. Und wie es aussah, würde ich sie für die Hotelrechnung oder einen Weiterflug nach Boston oder besser gleich zurück nach Deutschland benötigen. Mit meiner verschwitzten Hand strich ich über mein Gesicht und betrachtete ratlos meinen Handteller, als stünde die Lösung der Frage dort. Stattdessen sah ich schwärzliche Spuren, die überdeckt waren mit einem silbrigen Streifen. Ich hatte vermutlich mein Make-up verwischt und es mit Schweiß und Staub vermischt. Vorsichtig tupfte ich meine Haut mit einem Reinigungstuch aus dem Flugzeug ab. Mein Blick fiel auf meine helle Hose. Schwarzgraue Flecken verunstalteten auch meine Kleidung. Nun erst fiel mir der Geruch von Wagenschmiere auf. Der Griff der Tür und die Türverkleidung waren dort, wo sie eigentlich einmal hell gewesen waren, bräunlich – schwarz.

Das Taxi hielt vor einem Hotel. So unwirklich mir eben noch alles vorgekommen war, so heftig hatte mich die Wirklichkeit wieder. In wenigen Minuten würde ich diesen Prunkbau mit meinem schmutzigem Gesicht und fleckiger Kleidung betreten müssen. Sollte ich tatsächlich das Missverständnis sofort aufklären? An der Rezeption begrüßte man mich sehr höflich, ohne sich von mir bestätigen zu lassen, ob ich tatsächlich Frau Pechstein sei. Auch ließ sich niemand wegen meines seltsamen angeschmutzten Aussehens etwas anmerken. Inder seien sehr höflich, hatte ich einmal gelesen. Man nannte mir meine Zimmernummer und winkte einen Pagen wegen meines Gepäcks herbei. Verlegen reichte ich ihm meinen winzigen Bordkoffer. Der junge Mann führte mich auf mein Zimmer. Statt eines Trinkgeldes hatte ihm nur eine Tüte mit Bonbons anbieten können. Als er das große Zimmer verlassen hatte, ließ ich mich auf das Bett fallen und weinte vor Zorn und Verzweiflung.

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür. Nach einem Rat meiner Großmutter atmete ich tief durch und zählte langsam bis drei. Argwöhnisch zog ich die Tür einen Spalt breit auf und blickte ungläubig auf ein verlockend aussehendes Tablett. „Das Essen“, sagte ein netter Page und schaute mich erwartungsvoll an, als er das Tablett auf den kleinen Tisch gesetzt hatte. Offensichtlich erwartete auch er Trinkgeld. Ich gab ihm einen Dollarschein. Wieso bekam ich hier sogar ohne Bestellung das Essen gebracht? Aber nichts war bisher nach Plan gelaufen, warum also sollten nicht auch angenehme Dinge dazugehören? Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Das fremdartige Essen war überraschend schmackhaft und sättigend. Nun gehörte zu meinem Wohlbefinden nur noch ein angenehmes Bad. Meine Kleidung streifte ich schon im Zimmer ab und ließ sie auf den Teppichboden fallen. Obwohl ich allein war, schloss ich gewohnheitsmäßig die Badezimmertür hinter mir. Endlich konnte ich mich entspannen.

Nach dem Bad schlüpfte in einen der weiten, weichen Bademäntel. Inzwischen hatte jemand das Geschirr fortgeräumt. Frische Blumen standen auf einem kleinen Tisch. Ich fühlte mich gut, ich war satt und sauber. Neugierig trat ich an das Fenster und beobachtete eine Weile den dichten Straßenverkehr. Dabei erinnerte ich mich wieder an die Taxifahrt, an die Wagenschmiere und an meine Kleidung. Meine Hände waren wieder sauber. Wie aber würde ich die Spuren an meiner Bluse und der Hose einigermaßen entfernen können? Ich seufzte, drehte mich um und erstarrte. Meine Kleidung war fort! Fieberhaft durchwühlte ich das Bett, dann den Wandschrank, danach schaute ich verzweifelt hinter alle Möbel. Sie war fort! Jemand musste sie entwendet haben. Oder galt am Boden liegende Wäsche auch hier: „Bitte waschen“?

Ich hatte nur noch den Bademantel und meine Schuhe, glücklicherweise auch noch meine Taschen. Denn was wäre ich hier ohne Geld, ohne meine Papiere? Dann wäre ich ein Nichts. So war ich wenigstens eine falsche Frau Pechstein. Unsicher betrachtete ich das Telefon. Wie telefonierte man eigentlich in Indien? Wie sollte ich jemandem meine missliche Situation erklären? Wenn ich an der Rezeption anrufen würde, würde vermutlich sofort alles auffliegen. Ich wollte sie nun nicht mit der Nase darauf stoßen. Schließlich klemmte ich mir ein weißes Badetuch unter den Arm, ein weiteres zusammengerolltes Handtuch legte ich zwischen Tür und Rahmen. Ich war vorsichtig geworden. So komfortabel dieses Hotel auch war, aber hier gab es noch nicht einmal einen Zimmerschlüssel. Die Plastikkarte, die ich am Empfang bekommen hatte, hatte ich keines Blickes gewürdigt. Wenn mir jetzt auch noch die Tür zufallen würde, wären die peinlichen Umstände perfekt. Stehlen konnte man aus meinem Zimmer ohnehin nicht. Meine Handtasche hatte ich in das Badetuch eingerollt.

Ich tat so, als wolle ich zur Sauna oder in das Schwimmbad gehen. Der Page, der den Aufzug bediente, erklärte mir freundlich den Weg zu den Fitness-Studios, doch ich hörte vor lauter Nervosität und Verlegenheit nicht genau zu. Ich nickte immer wieder lächelnd, starrte auf die blinkenden Knöpfe. Schließlich hatte ich das Gefühl, dass es nicht mehr weiterging. Daher verließ ich den Aufzug und stolperte den langen Gang entlang. Hier sah es wenig komfortabel aus, außerdem roch es muffig und feucht. Vor mir wurde eine schwere Tür geöffnet und ein Wäschewagen herausgeschoben, auf dem saubere gebügelte und gefaltete Kleidung lag. Ich hatte noch nie so neidisch auf Wäsche anderer Leute geschaut wie in diesem Moment. Rasch drehte ich mich um und rannte zurück. Im Fahrstuhl überlegte ich, dass mir tatsächlich nur noch die Flucht nach vorn helfen würde. Ich müsste allerdings in dieser mageren Bekleidung zur Rezeption gehen und um Rat bitten.

Mit schamrotem Kopf fragte ich leise, wo ich Kleidung kaufen könne. Eine nette Inderin wies auf eine im Hotel liegende kleine Einkaufspassage. Sie musste wohl mein Zögern richtig gedeutet haben, denn sie griff zum Telefon, nickte mir beruhigend zu. Leise sagt sie, ich könne schon auf mein Zimmer gehen, dort würde man mir helfen. Schon wenige Minuten später besuchte mich eine Inderin in einem prächtigen Sari. Sie trug eine große Auswahl europäischer Kleidung auf ihrem Arm. Ich entschied mich rasch für eine helle leichte Hose sowie eine elegante Bluse, ohne großartig wählerisch zu sein, Hauptsache war, dass mir die Größe passte. Ich betrachtete mich vor dem Spiegel. So konnte ich mich sehen lassen. Deshalb beschloss ich, mich in die Empfangshalle zu setzen. Leider waren beinahe alle Sesselgruppen besetzt, nur in einer Nische fand ich Platz. Allerdings hatte ich die Rezeption nicht mehr im Blick. Mir würde nicht mehr viel Zeit bleiben, bis man entdecken würde, dass ich unter falschem Namen hier wohnte.

Ich wollte jedoch noch nicht daran denken, und so schaute ich mir lieber die eintreffenden Hotelgäste genau an. Wieder wichen die Glasscheiben der Eingangstür zur Seite, und eine außergewöhnlich elegante Frau betrat das Hotel. Anscheinend war es für sie selbstverständlich, Gast in einem solchen luxuriösen Hotel zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht den geringsten Funken eines Selbstzweifels kannte. Leider nahm mir der dicke Marmorpfeiler die Sicht auf die Anmeldezeile. Doch unmittelbar darauf hörte ich ein Stimmenduell. Eine sehr sanfte Stimme wechselte mit einer lauten, fordernden. Mit einem Mal hörte ich meinen Namen, ach nein, nicht meinen tatsächlichen Namen, sondern Pechstein. So gut hatte ich mich also schon damit identifiziert. Ich hielt rasch die Zeitung hoch und versteckte mich dahinter. Es war auf jeden Fall ratsam, nicht gerade jetzt mich vorzustellen. Hauptsache, ich würde meine Nerven behalten.

Ich verstand, dass das Zimmer belegt sei, da Frau Pechstein ja bereits eingetroffen sei und dass man mit einem gleichwertigen Raum nicht dienen könne. Als ich vorsichtig aufsah, bemerkte ich, dass die Inderin mit der neu eingetroffenen Dame auf mich zukam. Fieberhaft arbeitete meine Phantasie. Ich wollte nicht wie ein Opferlamm auftreten. Wieder dachte ich an den Rat meiner Großmutter und zählte im Stillen bis drei. So richtete ich mich auf, fast konnte man sage, ich baute mich vor den beiden auf. Ich nickte der Inderin zu, machte eine beschwichtigende Handbewegung und wartete, bis sie sich zurückgezogen hatte. Nun standen wir uns gegenüber, die Frau, für die ich mich ausgegeben hatte, und ich. Ich musste achtgeben, dass ich nicht das innere Gleichgewicht verlor. Aus der Nähe betrachtet, imponierte sie mir noch mehr; sie sah sehr gut aus. Sie war sorgfältig geschminkt, doch trotz des Make-ups wirkte ihr Gesicht grau und übermüdet. Außerdem wirkte sie plötzlich schlaff wie eine Marionette, deren Fäden jemand zu rasch aus der Hand legt.

Als würde ich zum leitenden Personal des Hauses gehören, sagte ich zu meinem eigenen Erstaunen mit geschäftsmäßiger Stimme, wie sehr ich es bedauere, dass dem Hotel diese peinliche Verwechslung unterlaufen sei. Dabei betonte ich, dass es ihr wirklich nicht zuzumuten sei, sich in diesem Moloch Bombay eigenständig eine andere Unterkunft suchen zu müssen. Ich erkundigte mich mit souveräner Anteilnahme, ob ich ihr irgendwie helfen könne. Dabei sah ich die Verblüffung in ihrem Gesicht, dazwischen blinkte ein kritisches Abschätzen, doch sie atmete auf, als hätte sie einen Schluckauf und nickte nur. Ich glaubte für einen Moment, Tränen in ihren Augen zu sehen, zumindest schimmerten sie verdächtig. Nun hatte ich wieder Oberwasser. Eigentlich war meine Hilfsbereitschaft grundsätzlich immer auf Notruf für andere geschaltet: Mich brauchte nur jemand zu bitten, dann war ich zu gern zur Stelle. Nur dieses Mal kehrte ich die Sache um, jetzt half ich mir selbst. Die echte Frau Pechstein nickte heftig, wandte ihren Kopf seitwärts und gähnte verhalten. Ich ahnte, dass sie sich im nächsten Moment in einem der weichen Sessel niederlassen wollte. Dort würde sie unweigerlich sofort einschlafen. Dann aber würde meine Rechnung möglicherweise nicht aufgehen. Deshalb drängte ich sie, bis auf weiteres mit in mein Zimmer zu kommen, da ich den Eindruck hätte, sie bräuchte dringend ein wenig Ruhe. Sie könne sich, falls sie wolle, sich dort frisch machen. Ich war mir sicher, dass sie in diesem Zustand der Erschöpfung leicht zu beeinflussen war. Die Gunst dieser Stunde wollte ich für mich nutzen.

Mit einem weißen Bademantel bekleidet, kam Frau Pechstein aus dem Badezimmer. Ich musste innerlich schmunzeln, es erinnerte mich an meine Ankunft. Im Gegensatz zu mir hatte sie jedoch einen Koffer mit ihrer Kleidung bei sich. Ihr hatte niemand die Kleidungsstücke weggenommen. Inzwischen hatte ich mich soweit mit dem Telefon vertraut gemacht, so dass ich einen kleinen Imbiss bestellen konnte, ebenso auch eine Flasche Sekt, obwohl ich wusste, dass er hier unverschämt teuer war. Meine Rechnung würde ohnehin schwindelerregend hoch sein, so dass es nun auch darauf nicht mehr ankam.

Der Sekt zeigte bei ihr rasch die gewünschte Wirkung. Während des Essens wurde sie gesprächig. Nach und nach erzählte sie mir von ihrem Irrflug und den Verwicklungen auf dem Flughafen in Boston. Sie hielt ihr Sektglas in Augenhöhe und blinzelte durch die perlende Flüssigkeit hindurch. Nur mit Mühe konnte ich meine Schadenfreude verbergen. Aber noch wollte ich nicht verraten, dass ich es war, die statt ihrer hier in Indien gelandet war. Sie schüttelte erneut den Kopf über den eigentlich unverzeihlichen und nahezu unmöglichen Irrtum der Fluggesellschaft. Sie lachte mich über ein Sandwich hin an und meinte, dass aber gerade diese Reise besonders reizvoll gewesen sei.

Schließlich fragte sie mich, aus welchem Grunde ich hier sei. Ich gab ihr eine ausweichende Antwort. Ich weiß, dass die meisten lieber selbst reden, als anderen zuzuhören und fragte sie stattdessen nach ihren ersten Eindrücken von Bombay. Sie erklärte, dass sie schon einmal geschäftlich in Indien zu tun gehabt hätte, aber ihr für diese Reise dieses erstklassige Hotel empfohlen hatte. Es sei eigentlich unbegreiflich, dass man ihre Buchung nicht korrekt vorgenommen hatte. Sie betonte jedoch, dass sie aber trotzdem Indien liebe. Dabei machte sie eine weit ausholende Handbewegung, als wolle sie mir die Größe des Landes beschreiben. Ihre Hand fegte dabei sehr niedrig über den kleinen Tisch. Der Rest der Hähnchenbrustfilets, die mit einer intensiv roten, indischer Soße zubereitet waren, schlitterte auf meine neue Hose. Frau Pechstein sprang impulsiv auf, dabei riss sie die Sektflasche ebenfalls vom Tisch. Der Sekt floss auf die zu Boden gefallenen Hähnchenteile und der rosa gefärbte Perlwein sickerte in den dicken Teppich. Wir beiden waren für einige Sekunden wie erstarrt und blickten auf die gewaschenen Hähnchenstreifen, dann gluckste uns beiden ein nicht mehr bezwingbares Lachen aus den Kehlen.

Auf meinen Oberschenkeln machte sich die scharfe Soße bemerkbar, die sich inzwischen unangenehm klebrig anfühlte. Siedend heiß fuhr es mir durch den Kopf, dass ich mich ja nicht umziehen konnte, da ich nichts zum Wechseln besaß. Sehr überzeugend wäre es nicht, wenn ich jetzt zugeben müsste, dass ich trotz der fürstlichen Unterkunft keine weitere Kleidung hatte. Das war‘ s also, dachte ich. Ich weiß nicht warum, aber ich erinnerte mich plötzlich an den Wäschedienst im Keller. Vielleicht konnte ich mich damit herausreden, dass sich meine Sachen in der Reinigung befanden. Die Nummer der Rezeption kannte ich inzwischen auch, sie klebte unter einer Folie neben dem Telefon. Verdammt, wie aber sollte ich erklären, was ich wünschte? Mir fiel nicht das Wort für Wäsche ein! Die freundliche Stimme von der Anmeldung fragte noch einmal geduldig nach. Aber ich war wie blockiert, zudem schämte ich mich vor meinem Gast wegen meiner lückenhaften Englischkenntnisse. Durch die Telefonleitung konnte die Inderin ja meine Pantomime nicht sehen, wie ich auf meine schmutzige Hose zeigte und abwechselnd in englischer wie auch deutscher Sprache zu erklären versuchte, was ich wünschte. Ich glaubte, die spöttischen Blicke der echten Frau Pechstein in meinem Rücken zu spüren und wurde noch nervöser. Hektisch legte ich auf. Ich wagte kaum, mich umzudrehen, um ihr endgültig zu beichten, was ich hier veranstaltete.

In diesem Augenblick klopfte es an der Zimmertür. Meine Nerven lagen ohnehin schon blank, wie sollte ich nur mit dieser weiteren Störung umgehen? Großmutters Rat, bis drei zu zählen, funktionierte nicht mehr. Mir war schlecht, ich musste sehen, wie ich aus diesem Schlamassel herauskam. So öffnete ich die Tür. Vor mir stand die junge Frau, die mir schon am Morgen Kleidung heraufgebracht hatte. Sie lächelte, schlüpfte zur Tür herein und zeigte auf die farbenprächtigen Blusen und Kleider, von denen sie reichlich auf ihrem Arm trug. Dabei schaute sie im Wechsel Frau Pechstein und mich an und breitete die Kleidung vor uns aus. Ihr Blick blieb an meiner fleckigen Hose haften. Sie zog aus dem Stapel eine seidene Hose heraus. Zielstrebig griff meine Zimmergefährtin nach einer passenden Bluse und hielt sie mir mit leicht schräg gelegtem Kopf an meine Brust. Dabei leuchteten ihre Augen und pfiff ganz leise durch die Zähne. Sie nahm mir einfach die Entscheidung ab, indem sie beide Kleidungsstücke auf mein Bett legte. Dann wandte sie sich erneut der farbigen Auswahl zu, doch diesmal hielt sie sich selbst die Blusen unter ihr Kinn und betrachtete sich im Spiegel. Sie nickte sich selbst zu und legte diese Teile auf die andere Hälfte des Bettes.

Die englische Sprache konnte ich besser verstehen als sprechen. Ich hörte aus dem Gespräch der beiden heraus, dass es Frau Pechstein noch um etwas anderes zu gehen schien als um diesen kurzen Kaufrausch. Und doch konnte ich es nicht einordnen, bis sie aus ihrem Koffer Skizzen hervorholte, die offensichtlich Entwürfe von Modezeichnern waren. Sie griff nach einem großen Papierbogen, und mit wenigen raschen Strichen stellte sie ähnliche Modelle dar. Die indische Frau und sie vertieften sich in offensichtlich fachliche Diskussionen und vergaßen, dass ich auch noch im Zimmer war. Ich wandte mich derweil den Hähnchenstreifen auf dem Teppich zu, auf dem ein großer orangeroter Fleck entstanden war. Es tat mir fast leid um die Hähnchenbrustfilets. Die Farbe des Chiligewürzes war ziemlich intensiv. Ich hob daher das Fleisch mit spitzen Fingern auf. Es hingen lange Haare daran. Ich war mir fast sicher, dass es sich nicht ausschließlich um Teppichwolle handelte. Ein trockenes Toastbrot lag noch am Rande des Tisches. Es war nicht mit hinuntergefallen. In dem Rest der roten Soße schwammen ein Salatblatt und eine matschige Tomatenscheibe. Es war alles nicht geeignet, meinen Hunger zu stillen.

Erneut klopfte es an der Tür. Nicht noch eine weitere Schwierigkeit! Mir reichte es! Die Kleiderverkäuferin öffnete die Tür und ließ zwei weißgekleidete junge Männer vom Zimmerservice herein. Der kleinere trug zwei zusammengefaltete weiße Tücher, während der andere ein Tablett mit einer goldenen Kuppel darauf trug. Ein köstlicher Duft zog in meine Nase, und während ich begeistert dem Kellner zusah, wie er den Tisch ordnete und mit sauberem Geschirr deckte, irritierte mich der andere, der mir zu Füßen fiel. Bei allem Luxus, aber das war mir nun wirklich nicht recht! Ich beugte mich beschämt zu ihm herunter und musste ernüchtert feststellen, dass er sich lediglich auf den Boden gekniet hatte, um den Fleck aus dem Teppich zu tupfen.

Ich hatte keine Lust mehr, mir etwas auszusuchen, ich wollte einfach nur etwas essen. Vorsichtig hob ich die goldene Haube ein wenig hoch und sah zwei Steaks. Indische Kühe, fuhr es mir durch den Kopf. Frau Pechstein sah mich amüsiert an. Sie schien zu wissen, was ich dachte und zerstreute meine Bedenken. Schweigend aßen wir, dabei beäugten wir uns immer wieder, als rätselten wir noch herum, welche Rolle die andere wohl wirklich spielen mochte. Auf jeden Fall schienen sich unsere Positionen irgendwie getauscht zu haben. Sie wirkte souverän, als ob sie mir Unterschlupf gewährt hätte und nicht ich ihr. Meine alte Unsicherheit machte sich wieder in mir breit. Ich befürchtete außerdem, dass meine Kreditkarte unter der Last der Kosten zerbräche. Was wäre nur, wenn ich mir nicht einmal mehr den Flug nach Hause leisten könnte? So sachlich wie möglich, erkundigte ich mich bei Frau Pechstein, ob ihr denn die Fluggesellschaft die Kosten für den Irrflug ersetzt hatte. Für einen Moment sah es so aus, als ob sie über irgendetwas flüchtig grinste, als sie erwähnte, dass man hier und da schon entgegenkommend sei. Sie legte schließlich ihre Serviette zur Seite und sprach davon, wie wichtig es sei, überall gute Beziehungen zu haben. Denn nur so würde man schnell wieder an sein Gepäck kommen. Als hätte sie darauf gewartet, dass ich mich gierig auf diese Aussage stürzen würde, zündete sie sich eine Zigarette an. Dann schob sie mir ihre Schachtel zu.

Unter einem Vorwand verließ ich das Zimmer. Ehe ich nicht genau wüsste, wie viel ich bezahlen musste und wann ich zurückfliegen konnte, hielt ich es nicht mehr aus. Wieder strich ich um die Rezeption herum wie eine streunende Katze. Viel hatte ich ja nicht zu packen, das Schlimmste würde nun die Rechnung sein. Ich flüsterte über die Theke, dass ich abreisen wollte, dass ich nur noch mein Gepäck holen würde. Bis dahin sollte sie mir die Rechnung fertigmachen. Ich konnte den stutzigen Blick des jungen Mannes nicht einordnen, er schüttelte nur lächelnd den Kopf. Vor der Zimmertür schluckte ich, ehe ich eintrat. Aber Frau Pechstein war nicht da. Ich war erleichtert, denn so blieb mir eine Erklärung erspart, andererseits wollte ich nicht ganz ohne Gruß davon reisen. Auf dem Schreibtisch hatte ich am Morgen einen Schreibblock gesehen, den ich nun für einen kleinen Gruß verwenden könnte. Doch die erste Seite war bereits beschriftet, und ich las:

„Liebe Frau Pechstein, sollten Sie einmal eine weitere Urlaubsreise planen, fliegen Sie direkt nach Boston. Die Stadt ist beeindruckend und überschaubarer als Bombay. Man kann sich dort nicht so leicht verirren. Und am Flughafen wartet vielleicht ein Koffer auf Sie!“
Ihre M. Pechstein

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