Wiedersehen mit Gebler

Die Sommerferien waren zu Ende. Wie immer, waren sie mir zu kurz vorgekommen, obwohl ich gern in die Schule ging. Herr Kunze teilte die schwarzen Aufsatzhefte mit dem roten Rücken aus und sagte gut gelaunt: „Wir schreiben heute einen Aufsatz: ‚Ein besonderes Ferienerlebnis‘.“
Ich seufzte. Es war fast in jedem Jahr das Gleiche, und ich weiß nicht, ob es aufgefallen wäre, wenn ich den  Aufsatz vom letzten Jahr nur neu geschrieben und abgegeben hätte.

Gerda, meine Banknachbarin, schlug ihr Heft auf, sie schrieb korrekt das Datum und das Thema von der Tafel ab, dann schrieb und schrieb sie, mit immer gleichbleibend säuberlicher Handschrift. Ich dagegen war dieses Mal schon recht früh fertig, klappte mein Heft zu und gab es vorn beim Lehrer ab, denn wer fertig war, konnte schon in die Pause gehen. Clemens und Theo waren schon auf dem Schulhof. Sie hatten ihre Murmelsäckchen mitgebracht. Ich war nicht schlecht, was das Murmelspielen anging, doch heute war ich nicht bei der Sache. Irgendwie beunruhigte es mich, dass ich so früh mein Heft abgegeben hatte, ich hatte offensichtlich etwas Wichtiges vergessen, aber ich wusste nicht was, nur so viel, dass ein Aufsatz von mir noch nie so kurz gewesen war.
Am nächsten Tag kam Herr Kunze mit den schwarzen Heften zurück. Ehe er sie auf das Pult legte, klopfte er die Kanten des Stapels säuberlich  unten und an der Seite gerade zu einem geschlossenen Block. Wie immer, lag Gerdas Heft obenauf. Sie schrieb stets  die besten Aufsätze, außerdem hatte ihr Heft, im Gegensatz zu meinem, keine Eselsohren und wirkte trotz ihrer umfangreichen Aufsätze wie neu. Für gewöhnlich folgte kurz darauf mein Heft, zumindestens war ich unter den ersten fünf. Ich konnte es aber dieses Mal nicht sehen, obwohl es für mich seit kurzem erkennbar war an einem Tintenklecks an der rechten oberen Ecke.  Mein Blick fuhr unruhig an dem Stapel entlang und schließlich entdeckte ich es; es war das zweituntererste Heft!

Vielleicht hatte Herr Kunze ja einen schlechten Tag gehabt oder es aus lauter Ärger über den dicken Klecks  unter den Stapel gelegt.
„In der Kürze liegt die Würze“,  sagte Herr Kunze eigentlich immer. Ehe er die Hefte verteilte, zog er mein Heft von unten her weg und sah mich merkwürdig an, er kam dann auf mich zu und forderte mich auf, den Aufsatz vorzulesen. Verwirrt schlug ich mein Heft auf. Statt einer 1 oder 2 prangte dort eine fette 5 unter meiner kurzen Schilderung. Es waren keine roten Striche am Rand wegen Rechtschreibfehler zu sehen, nur unten ein roter Kommentar, fast so lang wie mein kurzer Aufsatz.  Ungläubig starrte ich darauf. Das konnte nicht wahr sein!  Ich sah zwar, dass es meine nicht gut lesbare Schrift war, aber das konnte doch nicht von mir sein, was da auf dem Papier stand! – Was würden bloß meine Eltern sagen? Eine 5, und das sogar im Deutschaufsatz!

„Lies ihn vor, Maria“, forderte mich der Lehrer auf, und in seiner Stimme war der Spott nicht zu überhören. Stockend begann ich:
„Ein besonderer Tag in meinen Sommerferien.
Die Ferien waren schön. Ich war mit meinen Eltern verreist. Die Sonne schien fast jeden Tag. Wenn es ganz warm war, kauften meine Eltern uns ein Eis. Wir sind viel spazieren gegangen. Einmal wollen wir zu einem Schloss. Ich freute mich. Aber wir gingen nur bis zu einer Wiese. Auf einmal kam ein Fremder auf uns zu. Er freute sich, Papa auch. Dann kriegten wir Kuchen. Als wir wieder zurückgingen, waren meine Eltern so komisch. Sie sprachen kaum ein Wort mit uns. Das Schloss lag auf dem Berg, doch wir sind nicht mehr dorthin gegangen. Der Tag war nicht schön.“

Viele hatten sich zu mir umgedreht und kicherten, auch Gerda guckte mich so seltsam an, und Herr Kunze, der zum Glück wieder nach vorn gegangen war, schüttelte mit dem Kopf.

„Das war also dein besonderes Erlebnis in den Sommerferien? Kannst du das mal genauer erklären?“

Ich stotterte, denn ich glaubte es ja selbst kaum, dass ich diesen Aufsatz geschrieben hatte. Unbewusst schaute ich auf das Namensetikett. Es war aber mein Heft, es war ja auch meine Handschrift.  Und da erinnerte ich mich genauer… Ich sah auf meine Hände und mochte niemanden ansehen, als ich erzählte, was ich eigentlich gemeint hatte und auch hatte schreiben wollen.

„Also, das war so… Es war wirklich so, allerdings war es ganz seltsam. Die Ferien, diese 14 Tage, waren anders als die, die ich bis dahin erlebt hatte…“; Ich sprach hastig und zunächst unsicher, dabei warf ich kurz einen Blick auf den Lehrer, doch er schien aufmerksam zuzuhören, und sein Gesicht wirkte offen und keineswegs ironisch.

„Wir hatten einen Tagesausflug geplant zu dem Schloss Neuschwanstein.  Mein Vater erklärte, dass wir allerdings noch jemanden besuchen würden, der dort in einem Dorf unterhalb des Schlosses wohnte.
Wir fuhren mit einem Bus, und als wir endlich ausstiegen,  konnte ich das Schloss schon von weitem sehen. Es sah noch schöner aus als auf den Fotos, und meine Neugierde wurde immer größer. Der Weg dahin allerdings kam mir unglaublich weit vor, denn wir mussten zunächst über Wiesen und schmale Schotterwege gehen. Statt dem Schloss näherzukommen, glaubte ich,  als würde es immer weiter abrücken, als gäbe es nur noch Blumenwiesen, ab und zu auch Kühe, die Glocken um den Hals trugen.

Meine Schwester und ich quengelten und fragten: ‚Wann sind wir endlich da?‘, und Mutter antwortete  nur: ‚Wartet ab, es dauert sicher nicht mehr lange.‘ Unerwartet für uns, gingen meine Eltern auf den Eingang eines kleinen Bauernhauses zu und klingelten. Eine Frau mit einer Schürze kam heraus, sie schüttelte den Kopf, schlug immer wieder die Hände vor ihrem Mund zusammen und wies dann aufgeregt in eine Richtung,  ihre Hand wirkte wie ein Schwert mit einem Finger daran.

‚Dort hinten, am Ende der Wiese, da ist er!‘

Ich wusste nicht, über was die Erwachsen gesprochen hatten und warum die Frau plötzlich so aufgeregt wurde, auch meine Eltern, die sonst immer so zurückhaltend waren, verabschiedeten sich nervös und blickten immer wieder dorthin, wohin die Frau gezeigt hatte. Doch es war die entgegengesetzte Richtung Schloss Neuschwanstein. Ich hatte ja schon so ein komisches Gefühl gehabt, dass wir gar nicht wirklich dorthin gehen würden. Meine Eltern drehten tatsächlich dem Schloss den Rücken zu, und ihr Schritt wurde auf einmal so eilig, als  ob sie wieder zu einem Bus laufen müssten. Und dabei waren wir doch erst gerade angekommen!

Da sah ich in der Ferne einen Mann. Er hatte eine Mistgabel in den Händen und wendete das Heu. Zufällig sah er zu uns herüber. Er schaute noch einmal, hielt inne und sah erneut angestrengt in unsere Richtung. Papa winkte mit einer Hand hin und her, und mit einem Mal warf der Mann die Heugabel in hohem Bogen fort und rannte auf uns zu, dabei stolperte er über die kleinen Heuhaufen, er sprang und rannte, er machte große Schritte und riss dabei die Arme hoch. Auch mein Vater war plötzlich nicht mehr bei uns. Ich sah, wie er über einen kleinen Graben sprang und ebenfalls große Schritte machte. Auch er hielt die Arme hoch. Der Fremde war schon nahe bei uns, er schloss meinen Vater in die Arme und rief ständig nur: ‚Der Jupp! Der Jupp ist es. Der Jupp ist es!‘

Die beiden ließen sich immer wieder kurz los, schauten sich an, als wollten sie sich vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatten und umarmten sich erneut.

Ich verstand nur, dass Vater, der Josef heißt,  immer ‚Karl, Karl‘ rief und dabei schluchzte, und wieder hatten sich die beiden Männer umarmt. Auch der Karl weinte.

‚Daß du es bist, Jupp! Daß du es bist!‘, und er schlug meinem Vater auf die Schulter. Dann wurden beide ganz still, sie sahen sich nur an und nickten einander zu.

Meine Mutter steckte sachte ihr Taschentuch weg und traute sich schließlich zu fragen:
‚Woran haben Sie ihn denn erkannt? Wir waren doch noch so weit weg!‘

Karl  wischte sich mit dem Arm über die Augen, dabei lachte er wieder: ‚Sein Gang, es ist sein Gang! Keiner geht so wie Jupp! – Wir waren  doch im Krieg in  Gefangenschaft und sind in Russland jahrelang hintereinander her marschiert. So was vergisst man nicht. Das Bild brennt sich ein!‘

Er nickte meiner Mutter und sich selbst zu, und erneut schlug er meinem Vater auf die Schulter.

‚Du besuchst mich hier? – Mensch Jupp, wer hätte das gedacht, dass wir uns wiedersehen würden.‘

Es dämmerte schon, als wir uns verabschiedeten. Wir mussten uns beeilen, damit wir noch rechtzeitig zum Bus kommen würden. Auf dem Heimweg sagte keiner ein Wort. Meine Eltern drückten sich immer wieder stumm die Hände, und mein Vater räusperte sich immer wieder. Er spähte so lange aus dem Fenster, bis wir das Dorf nicht mehr sehen konnten.“

Inzwischen war meine Sprache so verwaschen, und ich wusste nicht, ob mich jemand überhaupt noch verstehen konnte, doch ich wollte niemanden ansehen. Immer wieder zog ich die Nase hoch, stockte und schluckte, redete dann so schnell weiter, als ginge es um Alles oder Nichts. Gerda hatte mir unterdessen ein Taschentuch herübergeschoben, ich nickte nur und schnaubte hinein, und dann sagte ich ganz leise:

„Erst abends, als ich im Bett lag, fiel mir ein, dass wir ja eigentlich zum Schloss gewollt hätten. Aber ich hatte es auch gar nicht vermisst.“

 

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