Hinter dem Passepartout


Anna stolperte aus dem Zug auf den Bahnsteig. Sie war kurz vor dem Ziel ihrer langen Reise. Mit ihren übermüdeten Augen zwinkerte sie in die verlegene Nachtbeleuchtung des finsteren Bahnhofes der Kleinstadt. Anna war allein. Sie blickte sich fröstelnd um, als erwarte sie, von jemandem abgeholt zu werden. Mit einem Seufzer hängte sie sich ihre Handtasche diagonal um den Körper. Feuchtkalte Luft hing in der alten Wartehalle. Die Halle, die Anna damals großzügig und sauber vorgekommen war, wirkte nun eng und bedrückend, vor allem jedoch schmutzig. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und Urin. Von den beiden Werbeplakaten hingen abgelöste Papiersträhnen von Waschmittel- und Zigarettenreklamen. Anna lehnte sich gegen die Ausgangstür und drückte sie mit ihren schmalen Schultern auf. Der Rollkoffer stolperte hinter ihr her. Es war kurz nach Mitternacht. Suchend blickte sie über den Bahnhofsvorplatz und lächelte überrascht. Der Droschkenstand, wie er damals noch genannt wurde, befand sich noch immer an der gleichen Stelle. Unter den großen Linden standen drei Taxen, auf denen kleine rechteckige Schilder leuchteten. Anna ging auf die innen dunklen Wagen zu. In unregelmäßigen Abständen glommen winzige rote Pünktchen auf. Sie sah zwei rauchende Fahrer, die offensichtlich in ein Gespräch vertieft waren. Das zweite Taxi war leer, doch in dem dritten Wagen saß jemand hinter einer Zeitung. Anna hoffte, dass es eine Fahrerin sein würde. Ob Taxen-Trude noch im Dienst war? -Dreißig Jahre waren vergangen. Vieles hatte sich verändert. Seit ihrer Heirat war Anna nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Heimat? – Was bedeutete dieses Wort eigentlich? Der Fahrer des ersten Wagens stieß von innen die Tür auf. Anna sprach ihn zögernd an und fragte nach Trude.
„Was? – Die ist doch schon lange tot. Wohin wollen Sie denn?“ „Ich muss nach Debbelsdorf.- Ist denn in dem Wagen da drüben eine Kollegin von Ihnen?““Ne, ne, Frollein. Zu dieser Zeit fahren nur Männer. Aber wenn Sie Angst haben, wenden Sie sich mal an den da. Der tut Ihnen garantiert nichts.“ Er lachte unangenehm höhnisch und machte eine abfällige Handbewegung. Der dritte Taxichauffeur hatte inzwischen seine Zeitung gesenkt. Ihm war nicht entgangen, wie die Ankommende sich nach einer Fahrgelegenheit umgesehen hatte. Rasch faltete er die Wochenzeitung zusammen und stieg aus. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er höflich und deutete zu seinem Wagen, blieb jedoch noch abwartend stehen. „Könnten sie mich bitte nach Debbelsdorf fahren?““Selbstverständlich. Es sind etwa fünfzig Kilometer, und die Wegstrecke ist schlecht ausgebaut. Sie wissen, dass es teuer werden kann?“
Anna nickte. Der Taxifahrer öffnete ihr die hintere Tür, dann griff er nach ihrem Gepäck und wuchtete es in den Kofferraum. Fragend blickte er sie an, denn sie war nicht eingestiegen. „Ich würde mich lieber nach vorn setzen. – Es sei denn, ihr Hund hat dort seinen Stammplatz.“ „Wie kommen Sie denn auf sowas?“ fragte er verblüfft und strich sich über seinen gepflegten Bart. „Ich fahre hier doch nicht mit einem Hund durch die Gegend.“ „Na ja, ich bin einiges gewohnt von Taxen,“ erklärte Anna. Er lachte gequält: „Manchmal wünschte ich mir schon ein Tier. Tiere sind nicht so lieblos wie manche Menschen.“
Er schloss die Tür neben Anna. Als er sich auf seinen Sitz fallen ließ, schüttelte er über einen unausgesprochenen Ärger den Kopf, warf einen scharfen Blick zu seinen rauchenden Kollegen hinüber und startete den Wagen. Die Kegel der Scheinwerfer schnitten suchend durch die Dunkelheit. In regelmäßigen Abständen, wie lautloses Zeigerrücken einer flachen Endlosuhr, tauchten die angestrahlten Begrenzungspfähle an beiden Seiten der Landstraße auf und sackten wieder in die Finsternis. Der Fahrer schaute unauffällig zu der Frau hinüber. Sie hatte die Arme um sich geschlungen und zitterte. Ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen, drehte er die Heizung höher und schaltete das Gebläse an. „Besser so?“ „Bitte? – Ach so, ja, danke.“ Sie spürte die Wärme, doch ihr Zittern ließ noch nicht nach, und plötzlich hörte sie sich fragen: „Kennen Sie das Gefühl, wenn man von innen friert?“ Er antwortete nicht sofort. Ohne seine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: „Ich kenne mich hier nicht mehr so recht aus. Obwohl etwa dreißig Jahre vergangen sind, dass ich diese Straße entlanggefahren bin, werden in mir Erinnerungen wach, Kindheitserinnerungen. Zum Beispiel an diesen dunklen Wald, der mir immer Angst gemacht hat.“ Sie stockte, tippte sich mit einer Hand vor den Mund und blickte ihn verlegen an. „Entschuldigen Sie bitte, ich überschütte Sie mit privaten Geschichten.“ Er nickte jedoch zu ihr hinüber: „Nein, erzählten Sie ruhig.“ Er wandte den Kopf zur linken Seite und schaute angespannt in den Außenspiegel. Rasch sah Anna aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. Dieser Mann passte in kein Klischee, das sie an Männerbildern in sich trug. Sie betrachtete sein schönes Profil und seine schlanken Hände, an denen er zwei Ringe trug. Er spürte ihren forschenden Blick, räusperte sich, gleichzeitig nickte er wieder. „Diese Gegend hat etwas Eisiges an sich, besonders tagsüber. Aber die Nacht ist manchmal wie eine gnädige Decke, die verbirgt und auch wärmt. Hier in diesen Dörfern werden unerlaubte Gefühle tiefgekühlt, um sie keimfrei zu machen, um sie auszurotten. Menschen, die sich dem Diktat der Dorfpäpste nicht beugen, werden ausgestoßen.“ „Was meinen Sie denn damit?“ fragte Anna ahnungsvoll. „Ach, nur so,“ versuchte er, das Gesagte wieder beiseite zu wischen.“ Aber warum wohnen Sie denn dann hier?“ „Gegenfrage: Warum lassen Sie sich denn in diese gottverlassene Gegend fahren?“.
Sie wollte ihm antworten, doch ihre Stimme gehorchte nicht sofort. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten,“ meinte der Taxifahrer, „übrigens, ich wohne in einem der kleinen Nester, weil mein Freund dort ein Haus hat. Und wir wohnen zusammen.“ Er schwieg einen Augenblick, doch ehe Anna antworten konnte, fügte er hinzu: „So hat der Ort wenigstens sein kleines Skandälchen.“ Der schwache Schein der Dorfstraßenlampen huschte rhythmisch über sein Gesicht, das eine bittere Strenge angenommen hatte. Als sie an der Kirche vorbeifuhren, glaubte Anna, ein verächtliches Schnauben von ihm zu vernehmen. Unerwartet fuchtelte er mit einer Hand drohend in der Luft herum, doch statt etwas dazu zu sagen, schaltete er in einen niedrigeren Gang, so dass der Motor das zornige Geräusch übernahm. Als hätten sie sich gerade nur über das Wetter unterhalten, fragte er sie mit einer routinierten Freundlichkeit: „Ach, wohin genau soll ich Sie denn bringen?“ „Zum Birkenweg bitte.“ Er pfiff vielsagend durch die Zähne. „Kennen Sie die ‚Heilige Familie‘?“ fragte er. Sie rückte unwillig von ihm ab und verschränkte ihre Arme ineinander. Um rasch abzulenken, fragte sie ihn: „Sagen Sie mal, wollen Sie mit mir ein religiöses Quiz veranstalten?“ Der Fahrer lachte leise, und von seiner verbitterten Stimmung verflog ein Quäntchen. „In dem Dorf gibt es drei oder vier Familien, die sich äußerst eifrig, ja, schon fast sektenhaft bemühen, den Papst in seiner Frömmigkeit zu überholen. Leider bemerken diese Leute dabei nicht, dass ihr eigener Heiligenschein klemmt, rostet und moralische Migräne verursacht, sowohl ihnen selbst und einigen anderen, die sie mit in diesen Sog gezogen haben.“ Anna antwortete nicht. Sie blickte mit gesenktem Kopf auf ihre geballten Fäuste. Glücklicherweise hatten sie die Ortschaft verlassen, und es war es wieder dunkel im Wagen. „Sie scheinen diese Leute näher zu kennen?“ fragte sie tonlos und gab sich Mühe, ihre fieberhaft gewordene Unruhe zu verbergen. Plötzlich fuhr er auffallend langsam. Dabei suchte er konzentriert den Wegesrand ab. „Hier steht ab und an ein alter Mann, oft den ganzen Tag, bis zur Dämmerung. Er steht da und winkt,“ erklärte er, „manchmal nehme ich ihn dann mit.“ „Wissen Sie, was er hier sucht?“ „Er sagt nie etwas. Angeblich wartet er auf jemanden, – ähnlich wie eine Mutter, die ihr Kind zur Adoption weggegeben hat.“ „Wissen Sie denn, wer dieser Mann ist?“ Nur mit Mühe konnte sie ihre Aufregung, die einer unbestimmten Ahnung entsprang, verbergen. „Er gehört zu denen, über die wir eben sprachen, zu den ‘Heiligen drei Königen’“. Die aufgeblendeten Scheinwerfer ließen das Ortsschild von Debbelsdorf aufleuchten. Anna stöhnte leicht auf. „Sind wir wirklich schon da?“ – „Nun, immerhin fahren wir schon fast dreißig Minuten.“ Hinter der Kirche wies ein abgeknicktes Straßenschild auf den Birkenweg hin. Unruhig zerrte Anna ihre Handtasche hervor und kramte nach ihrer Geldbörse. Das Taxi fuhr sehr langsam. Der Weg war vom Regen ausgewaschen und wirkte, als sei er nie ausgebessert worden. Die Lichtkegel der Scheinwerfer sprangen an den Birkenstämmen auf und ab. Vor dem Gartentor hielt der Wagen. Der Fahrer zögerte und nannte Anna leise den Fahrpreis. Sie nickte und bezahlte, machte jedoch keine Anstalten, auszusteigen. Plötzlich beugte sie sich nach vorn. Ihr Kopf lag fast auf ihren Knien, und kurz darauf bebte ihr schmaler Körper, bis schließlich ein unterdrücktes Schluchzen zu hören war. Erneut wühlte sie in ihrer Handtasche und merkte nicht sofort, dass der Mann, der sie bis hierhergefahren hatte, ihr ein Taschentuch hinhielt. Sie griff nach dem Papiertuch, nickte und schnäuzte sich energisch. „Danke. – Ich weiß nicht, wie ich´s sagen soll. Ich traue mich nicht, auszusteigen. Sie werden es wohl kaum verstehen, aber ich habe plötzlich Angst, gleich über die Schwelle zu treten und…“ Als sei es unendlich schwer, diesen Satz zu Ende zu sprechen, fügte sie schließlich tonlos hinzu: „Ich habe Angst, nach so langer Zeit meinem Vater gegenüberzutreten.“ Leise fragte er: „Ich bin ein Fremder für Sie. – Darf ich dennoch fragen, warum Sie sich nicht trauen, einfach hineinzugehen und den Dingen seinen Lauf zu lassen?“ Sie zuckte mit den Schultern und hob resigniert die Hände. „Meine Eltern haben mich aus dem Haus gewiesen und erklärt, ich könne ihre Tochter nicht mehr sein…“ Zögerlich fragte er: “Sie werden ja wohl nicht ein Verbrechen begangen haben. “ „Nein, – das heißt, in ihren Augen war es eines. Ich habe einen Mann geheiratet, der eine andere Konfession hatte. – Damals war das das Schlimmste, was ich ihnen antun konnte.“ Er sah zur Seite, starrte in die Dunkelheit und seufzte. Sie murmelte eine Entschuldigung, raffte hastig ihre Tasche an sich und fingerte suchend nach dem Türgriff. Doch er hielt ihre linke Hand fest. „Bleiben Sie noch! Warten Sie wenigstens solange, bis es Ihnen wieder einigermaßen geht, solange, bis Sie Ihren Mut wiedergefunden haben, diesen Schritt zu tun.“ Für Anna unerwartet, legte er seinen Kopf auf die Mitte des Lenkrades, als wolle er seine Stirn kühlen. Auch er verbarg kurz sein Gesicht hinter seinen Armen. Sie hörte ihn deutlich schlucken, und schließlich fügte er mit belegter Stimme hinzu: „Wir sind beide in ähnlicher Lage. Wir sind beide Ausgestoßene. – Ich glaube jedoch, Sie haben inzwischen die besseren Karten. Für Sie hat sich möglicherweise das Blatt gewendet.“ „Das Blatt gewendet…?“wiederholte sie verständnislos. „Der Alte, der immer winkend am Straßenrand steht, wohnt hier.“ Es nieselte, als sie aus dem Taxi ausstiegen. Er hob den Koffer aus dem Gepäckraum und wehrte ab, als sie die Hand danach ausstreckte.
„Lassen Sie mal. Ich bringe ihn zur Tür. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie in das Haus.“ Sie bewegte ihren Zeigefinger zum Klingelknopf. Doch ehe sie den Klingelknopf gedrückt hatte, wurde von innen die Tür geöffnet. Das Licht blendete die beiden Angekommenen, und Wärme empfing sie. Die Nachbarin, die Anna das Telegramm geschickt hatte, winkte die beiden hinein. „Ich wusste, dass Sie kommen würden.“ Sie setzten sich zu dritt in die kleine Küche, in der sich seit damals kaum etwas verändert hatte. Über der Tür, neben einem Heiligenbild, brannte ein rotes Lämpchen, ein elektrischer Ersatz für eine Bittkerze.
Die Nachbarin goss Tee ein, stellte belegte Brote dazu. Sie legte ihre Hand auf Annas Arm. „Wie freue ich mich, dass du wieder hier bist! – Ich darf doch noch `du‘ sagen? – Es wurde höchste Zeit, dass du zurückkommen würdest. Es sieht so aus, als ob dein Vater in den nächsten Tagen sterben wird.“ „Wenn Sie mir nicht das Telegramm geschickt hätten, wüsste ich auch nicht, dass Vater im Sterben liegt. Seit Jahren habe ich schon keine Nachricht mehr von hier bekommen,“ sagte Anna mit trockenem Mund. „Ich verstehe immer noch nicht, dass man mir sogar die Nachricht vom Tod unserer Mutter vorenthalten hat.“ Die Nachbarin blickte verlegen zur Seite. Anna nickte beschwichtigend. „Lassen Sie nur, Frau Sommer, Ich glaube, Vater wollte einfach keinen Kontakt mehr zu mir. Sein Leitsatz war immer: ’mit allen Konsequenzen’“. „Ich habe das Gefühl, dass er heute anders denkt. Er ist so ruhelos geworden. Er wartet auf jemanden.“ Ihre Stimme wurde leiser, jedoch auch dichter, während sie den Kopf zu Anna wandte. „Er hat nie etwas gesagt, aber ich weiß, dass er auf dich wartet.“ Anna wandte sich um und blickte dem Taxifahrer ins Gesicht. Er kam ihr so vertraut vor, als würde sie ihn schon lange kennen. Unerwartet für ihn, umarmte sie ihn kurz. „Danke, dass Sie mich hierherbegleitet haben. Sie haben mir Mut gemacht.“ flüsterte sie in den Stoff seiner Jacke. Als sie ihn zur Haustür begleitete, fielen ihr die alten Familienbilder auf. Anna stutzte und blieb irritiert stehen. Wortlos deutete sie auf den hellen ovalen Fleck auf der vergilbten Tapete. Dort fehlte ein Familienbild. „Dieses Foto – seit wann fehlt es dort?“ Die Nachbarin schaute verwundert auf die Bildergruppe und zuckte mit den Schultern. „Gestern noch hing es dort. Seltsam.“ Unbemerkt von beiden, zog der Taxifahrer die Haustür hinter sich zu.
Vor der Tür des Schlafzimmers schloss Anna einen Moment die Augen. Sie tastete nach der Klinke, atmete tief durch und trat leise ein. Am Bett des Vaters brannte die kleine Nachttischlampe. Sie hörte, wie er schwach stöhnte. Als sie ihn ansprechen wollte, versagte ihre Stimme. Sie blickte auf die Holzbohlen und sah zerbrochenes Glas und ein vergilbtes, eingerissene Passepartout.
Der alte Vater hielt in seinen zittrigen Händen ein verblichenes Foto. Sie räusperte sich und formulierte flüsternd das Wort ‘Vater’. Erst jetzt nahm der Alte die Frau neben seinem Bett wahr. Wie ertappt ließ er das Bild auf die Bettdecke fallen. Ungläubig blickte er Anna an, dann begann er kraftlos zu weinen. Stockend entluden sich Worte. „Du, Anna? – Kind, du bist doch zurückgekehrt? Nach allem, was wir dir angetan haben? – Ich – ich war zu stolz, um dir hier wieder deinen Platz anzubieten.“ Sie legte ihm ihre Finger in seine faltigen, mit Altersflecken übersäten Hände. Schließlich seufzte er tief, als habe er Ruhe gefunden. Noch einmal schaute er sie an, unsicher wie jemand, der sich auf die unbekannte, ihm vorbestimmte letzte Reise macht.
Als graues Morgenlicht die Nacht ablöste, hörte Anna die letzten Atemzüge ihres sterbenden Vaters. Sie strich ihm über sein Gesicht und drückte ihm die Augenlider zu. Schließlich nahm sie erschöpft das verblasste Foto auf, das während ihres befreienden Gespräches neben seine Bettdecke gerutscht war. Es war das Bild von ihr, das er aus dem Rahmen befreit hatte, das einzige Familienbild, auf dem alle, auch Anna, abgebildet waren. Ihr Gesicht, das all die Jahre über von einem schmutzig-weißen Passepartout verdeckt worden war, hatte seine ursprüngliche Farbe und Klarheit bewahrt.

Herbstfeuer

Die Arme um sich gelegt, starrte der Mann hinaus auf die Straße. Ihn störte der Lärm der Kinder, die zwischen parkenden Autos spielten. Unwirsch schloss er das Fenster. Obwohl es Spätsommer war, fror er. Im Kamin neben ihm schwelte ein kümmerliches Feuer. Der Mann hatte die Altersgrenze in seinem Berufsleben erreicht. Nun sträubte er sich, den neuen Lebensabschnitt zu akzeptieren. Weiterlesen

Lebenszeichen

Die alte Frau stand mit gebeugtem Rücken an der Wasserstelle. Als der hohle Klang in ihrer Kanne heller und satter wurde, drehte sie den Wasserhahn umständlich zu. Sie presste die Lippen zusammen und setzte das Gefäß auf den Boden. Obwohl die tiefstehende Nachmittagssonne sie blendete, nahm sie den Mann wahr, der ebenfalls zur Brunnenanlage kam. In diesem gleißenden Gegenlicht wirkte sein lichtes Haar flirrend wie ein Heiligenschein, sein Gesicht aber lag im Schatten. Weiterlesen

Endlich Urlaub

„Unter anderem ist die Stadt Boston bekannt durch ihr weltberühmtes Sinfonieorchester…“, las ich erneut im Reiseführer, ehe das Flugzeug startete. Ich freute mich auf Boston. Lange hatte ich für diesen Flug gespart. Ich war mir sicher, dass ich an solch eine aufregende Reise noch lange denken würde. Obwohl ich noch nie geflogen war, genoss ich den Start des Flugzeugs wie auch das großartige Gefühl, über der Erde zu schweben. Weiterlesen

Die Geldtasche

„Willst Du doch wieder einen Lehrling einstellen? Vor einiger Zeit hast du es noch strikt abgelehnt“. Sigrid Wolff zündete sich eine Zigarette an und wandte sich gereizt ihrem Mann zu. „Aber bitte keinen Ausländer, Türken oder so“.
Martin Wolff ließ die Zeitung sinken.
„Heinrich Schmidt muss seine Werkstatt aufgeben. Er hatte einen Schlaganfall. Und sein Azubi Ahmed ist mit seiner Ausbildung noch nicht fertig. Das sind die besten Voraussetzungen für junge Leute, auf die schiefe Bahn zu kommen.“
„Und du musst natürlich wieder die Welt retten und die Probleme anderer lösen!“
„Ich will nicht die Welt retten, aber wenigstens seine Ausbildung sichern. Lass das also meine Sorge sein“. Weiterlesen

Warten auf Weihnachten

Menschen hasten mit prall gefüllten Einkaufstaschen durch die Straßen. Hektik liegt in der Luft. An Heiligabend sind die Geschäfte nur bis zum Mittag geöffnet: Es ist die letzte Gelegenheit, einzukaufen. Die Weihnachtsbäume sind fast fertig geschmückt, es fehlen nur noch die goldenen Kugeln, in denen sich die Kerzen festlich spiegeln können. In den Feinkostgeschäften sind die geräucherten Forellenfilets wie auch der russische Kaviar beinahe ausverkauft.   Weiterlesen

Paradiesische Zustände

Als Eva einmal keine Lust hatte, das Paradies aufzuräumen sowie Nuss,- Bananen- wie auch Orangenschalen in die grüne Tonne zu sortieren, dachte sie daran, Adam einfach mal zu überraschen und ihn vom ständigen Faulenzen abzulenken. So färbte sie sich die Lippen mit Roter Bete dunkelrot und beugte sich über den kleinen Teich mit den Seerosen, um sich im Wasserspiegel zu betrachten.  Sie steckte sich noch eine Blüte ins Haar und nickte sich zufrieden zu. Weiterlesen

Die Herbergssuche

Seit einigen Stunden schneite es unablässig, und im Gegenlicht der Straßenlaterne wirkten die kreisenden Schneeflocken wie angreifende Insekten. Iris nahm ihren Blick zurück, wischte sich über das Gesicht und sah dem davonfahrenden Nachtbus nach. Sie griff nach ihrer schweren Reisetasche und stapfte im Storchengang durch den kniehohen Schnee. Wie oft war sie diesen Weg mit Max gegangen, als sie noch ineinander verliebt waren, als sie beide als Achtzehnjährige Pläne für eine gemeinsame Zukunft gemacht und sich ewige Treue geschworen hatten. Seitdem war ein Jahr vergangen, dass sie ihn doch verlassen hatte.
Es brannte noch Licht im oberen Stockwerk des roten Backsteinhauses. Offensichtlich war Max zuhause und noch nicht zu Bett gegangen. Iris atmete auf und hoffte, dass sie bei ihm bleiben konnte, wenigstens in dieser Nacht. Schritt für Schritt tastete sie sich zum Haus vor, und nicht nur der schlecht ausgeleuchtete Weg machte ihr zu schaffen, auch ihr Gang war in den letzten Wochen schwerfällig und unsicherer geworden. Weiterlesen

Zwischen Sommerende und Herbstanfang

Zwischen Sommerende und Herbstanfang liegt eine sehr winzige und freundliche Spanne. Sie lässt jedem von uns Raum, in ganz persönlicher Weise vom Sommer Abschied zu nehmen. Doch auch der schönste Sommer muss im Staffellauf der Jahreszeiten den Stab übergeben. Die schon tiefstehende Sonne ist das freundliche Augenzwinkern des Herbstes. Jedoch abends haucht der Herbst mit feuchtem Atem seinen Vorgänger fort. Das Tageslicht wird spärlicher, die Nächte werden kühler, und über Straßen und Wiesen kriechen die Nebel.
Zwischen Sommerende und Herbstanfang ist nur eine kleine Frist für einen Abschied, der eher wie eine Mitteilung ist. Auf dem Kalenderblatt steht nur schlicht gedruckt ein Wort mehr als noch gestern: Herbstanfang. Und doch ist es, als würde man auf einmal älter und reifer, um begreifen zu können, dass nichts bleibt außer den Erinnerungen, die man sammeln kann wie reife Kastanien, die die Herbststürme von den Bäumen gerüttelt haben.

Abschied von Großvater

Nun war auch der letzte der Umzugswagen fortgefahren, und ich stand allein in den leeren Räumen der alten Villa. Der  Geruch von abgestandener Zeit hing in der Luft. Es war, als wäre gerade ein Tropfen 4711 zu Boden gefallen neben einen noch glimmenden Zigarrenstummel. Meine Schritte halten auf dem abgetretenen Parkett. Als ich mich noch einmal umsah, fiel mein Blick auf eine der Fußbodenleisten neben dem Kamin. Sie war leicht aufgequollen und hatte sich an einer Ecke von der Wand gelöst. Leicht gebückt, blickte ich seitlich in die Ritze, und trotz meiner häufig splitternden Fingernägel zog ich die lackierte Bodenleiste von der Wand ab. Zwar hatte ich Angst vor toten Mäusen, und dennoch griff ich so weit in den dunklen Spalt hinein, bis ich einen knisternden großen Umschlag zu fassen bekam. Der grau-braune Brief, mit Feldpostbriefmarken frankiert, wirkte verschlissen und war an den Ecken abgestoßen. Ich erkannte Großvaters Schrift, steil, militärisch korrekt und respekteinflößend. Ich hatte Großvater geliebt; er als Arzt war immer mein Vorbild für Menschenliebe und Großherzigkeit  gewesen. Seine Strenge wie auch seine Güte glaubte ich wieder zu spüren; sie hatte für mich auch als Synonym für Gerechtigkeit gestanden. Doch er war schon viele Jahre tot, und Oma lebte in einem Altenheim in ihrer eigenen Welt. Ich hätte sie gern nach vielem gefragt, nach der Familiengeschichte und ihrem persönlichen Glück und auch, wann ihre beste Zeit in ihrem Leben gewesen war. Aber sie konnte mir meine Fragen nicht mehr beantworten.
Der dicke Umschlag war nur lose ineinandergesteckt. Es waren Briefe, die die Großeltern sich in der Kriegszeit geschrieben hatten, vermutlich Liebesbriefe, weil sie einander so fern gewesen waren.
Die Briefe rutschten aus dem Umschlag, und nun lagen sie unsortiert vor meinen Füßen. Unschlüssig betrachtete ich sie erneut. Durfte ich Liebesbriefe lesen? Ich beruhigte mein Gewissen, indem ich mich daran erinnerte, wie häufig und auch gern mir Oma oder Großvater Geschichten aus ihrem Leben erzählt hatten. Deshalb raffte ich alle Briefe zusammen und öffnete zunächst einen, den Großvater an Oma geschrieben hatte.
„Liebe Hilde,
seit gestern bin ich leitender Arzt der Klinik Spiegelgrund. Diese Arbeit betrachte ich als Berufung, die mich herausfordert und erfüllt. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie aufschlussreich sämtliche meiner medizinischen Versuche an behinderten Kindern sind. Wirklich, Du kannst stolz auf mich sein.
Heil Hitler!
Dein Hermann“