Abschied von Großvater

Nun war auch der letzte der Umzugswagen fortgefahren, und ich stand allein in den leeren Räumen der alten Villa. Der  Geruch von abgestandener Zeit hing in der Luft. Es war, als wäre gerade ein Tropfen 4711 zu Boden gefallen neben einen noch glimmenden Zigarrenstummel. Meine Schritte halten auf dem abgetretenen Parkett. Als ich mich noch einmal umsah, fiel mein Blick auf eine der Fußbodenleisten neben dem Kamin. Sie war leicht aufgequollen und hatte sich an einer Ecke von der Wand gelöst. Leicht gebückt, blickte ich seitlich in die Ritze, und trotz meiner häufig splitternden Fingernägel zog ich die lackierte Bodenleiste von der Wand ab. Zwar hatte ich Angst vor toten Mäusen, und dennoch griff ich so weit in den dunklen Spalt hinein, bis ich einen knisternden großen Umschlag zu fassen bekam. Der grau-braune Brief, mit Feldpostbriefmarken frankiert, wirkte verschlissen und war an den Ecken abgestoßen. Ich erkannte Großvaters Schrift, steil, militärisch korrekt und respekteinflößend. Ich hatte Großvater geliebt; er als Arzt war immer mein Vorbild für Menschenliebe und Großherzigkeit  gewesen. Seine Strenge wie auch seine Güte glaubte ich wieder zu spüren; sie hatte für mich auch als Synonym für Gerechtigkeit gestanden. Doch er war schon viele Jahre tot, und Oma lebte in einem Altenheim in ihrer eigenen Welt. Ich hätte sie gern nach vielem gefragt, nach der Familiengeschichte und ihrem persönlichen Glück und auch, wann ihre beste Zeit in ihrem Leben gewesen war. Aber sie konnte mir meine Fragen nicht mehr beantworten.
Der dicke Umschlag war nur lose ineinandergesteckt. Es waren Briefe, die die Großeltern sich in der Kriegszeit geschrieben hatten, vermutlich Liebesbriefe, weil sie einander so fern gewesen waren.
Die Briefe rutschten aus dem Umschlag, und nun lagen sie unsortiert vor meinen Füßen. Unschlüssig betrachtete ich sie erneut. Durfte ich Liebesbriefe lesen? Ich beruhigte mein Gewissen, indem ich mich daran erinnerte, wie häufig und auch gern mir Oma oder Großvater Geschichten aus ihrem Leben erzählt hatten. Deshalb raffte ich alle Briefe zusammen und öffnete zunächst einen, den Großvater an Oma geschrieben hatte.
„Liebe Hilde,
seit gestern bin ich leitender Arzt der Klinik Spiegelgrund. Diese Arbeit betrachte ich als Berufung, die mich herausfordert und erfüllt. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie aufschlussreich sämtliche meiner medizinischen Versuche an behinderten Kindern sind. Wirklich, Du kannst stolz auf mich sein.
Heil Hitler!
Dein Hermann“

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